Schädelvergleich verschiedener Urmenschen, darunter der Homo longi
Kai Geng
Kai Geng
Fossilfund

Alles neu im Stammbaum des Menschen?

Der Neandertaler gilt in der Ahnenreihe des modernen Menschen als unser nächster Verwandter. Doch nun macht ihm eine neue Menschenart aus China diese Position streitig: Der Homo longi vulgo „Drachenmensch“ könnte uns noch näher stehen.

Erst letzte Woche berichtete ein österreichisch-israelisches Forscherteam von der Entdeckung neuer Fossilien, die Vorderasien in den Fokus der menschlichen Evolutionsgeschichte rücken. Der Neandertaler war demnach kein reiner Europäer, so wie bisher gedacht, vielmehr absolvierte er einen Gutteil seiner Entwicklung auch im Nahen Osten – und kam ebenda vor 200.000 Jahren auch mit dem modernen Menschen in Kontakt.

Großes Gehirn, riesige Zähne

7.000 Kilometer weiter nordöstlich bringt nun ein weiterer Fund die alte Ordnung ins Wanken. Ein Team um den chinesischen Paläontologen Qiang Ji stellt in drei verschiedenen Studien einen erstaunlich gut erhaltenen Menschenschädel vor. 146.000 Jahre ist das Stück alt, der Hirnschädel ähnlich groß wie beim modernen Menschen, mit dicken Überaugenwülsten sowie einem breiten Mund und überdimensionalen Zähnen.

Möglicherweise handelt es sich nicht nur um eine Varietät der zu dieser Zeit recht zahlreichen Menschenformen, sondern um eine neue Spezies. Das jedenfalls behaupten Ji und Kollegen im Fachblatt „The Innovation“ und geben dem Fossil gleich einen neuen Art- und Kosenamen: Homo longi vulgo „Drachenmensch“.

Nachdem die Etablierung einer neuen Art immer einen Schnitt im Kontinuum der natürlichen Formen bedeutet, ist diese Entscheidung zu einem gewissen Grad auch Geschmackssache. Manche legen es sparsam an, sprechen von neuen „Populationen“ und lassen die Frage nach dem Artstatus offen (wie zum Beispiel die Autoren der Neandertaler-Studie letzte Woche).

Andere sind da offensiver und fügen den bereits vorhandenen Kategorien der Vor- und Frühmenschen eben eine neue hinzu. Ji gehört wohl der zweiten Gruppe an, er sagt: „Das Fossil gehört zu den am besten erhaltenen Menschenschädel weltweit. Es weist eine Kombination von primitiven und modernen Merkmalen auf und unterscheidet sich klar von den bisher bekannten Vertretern der Gattung Homo.“

Das sehen nicht alle so. Jean-Jacques Hublin vom Max-​Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig etwa ist von der Klassifizierung seiner chinesischen Kollegen wenig angetan und hält es laut „Süddeutscher Zeitung“ für viel wahrscheinlicher, dass der Schädel der Abstammungslinie der Denisova-Menschen zuzuordnen ist. Ähnlich äußerte sich der Wiener Anthropologe Gerhard Weber gegenüber dem ORF.

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“Nur eine Hypothese“

Noch spektakulärer ist der zweite Befund, den Jin und sein Team von ihren morphologischen Untersuchungen ableiten. Ihrer Ansicht nach handelt es sich bei Homo longi um die Schwesternart des Homo sapiens. Sollte das zutreffen, wäre der Drachenmensch der nächste Verwandte des modernen Menschen und würde somit den Neandertaler aus dieser Position verdrängen.

Der britische Anthropologe Chris Stringer vom Nature History Museum in London, er war an zwei der drei Studien beteiligt, bleibt in dieser Hinsicht abwartend. Er hält diesen Schluss für möglich, gleichwohl nicht für bewiesen. „Die Verwandtschaftsanalysen waren solide, ich würde das aber nur eine Hypothese nennen, mit der wir arbeiten können.“ Genetische Untersuchungen hat das Team bisher nicht durchgeführt. Sie sollen in den nächsten Jahren zeigen, welcher Platz dem Homo longi im Stammbaum der Hominiden tatsächlich zukommt.

Der Schädel im Brunnen

Bemerkenswert ist jedenfalls die Backstory der drei Fachartikel. Entdeckt wurde der Schädel bereits 1933 in der nordchinesischen Stadt Harbin, und zwar von einem Trupp chinesischer Arbeiter, die für die damaligen japanischen Besatzer eine Brücke errichten mussten. Der Vorarbeiter nahm den Schädel an sich und versteckte ihn in einem Brunnen, um ihn nicht in die Hände des Kriegsgegners gelangen zu lassen.

„Aber er hat niemandem etwas davon verraten, weil er es als Schande empfand, für die Japaner gearbeitet zu haben“, erzählt Stringer im Gespräch mit dem ORF. „Im hohen Alter, kurz vor seinem Tod, änderte er seine Meinung und berichtete seinen Enkeln davon. Der Schädel im Brunnen war all die Jahre unentdeckt geblieben – 2018 wurde er schließlich an Qiang Ji für wissenschaftliche Untersuchungen übergeben.“

Die Ergebnisse hätten ursprünglich in einem renommierten Journal – „Nature“ oder „Science“ – erscheinen sollen, allerdings hatten die Prüfer so umfangreiche Revidierungen eingefordert, sodass Ji und sein Team den Artikel zurückzogen und sich für eine rasche Publikation in einer relativ unbekannten Fachzeitschrift entschieden. „The Innovation“ wird von Cell Press in Kooperation mit der chinesischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben.