Passanten vor dem Vienna International Centre
shyshka – stock.adobe.com
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Coronavirus

Ab wann ist die Herdenimmunität erreicht?

Anfangs gingen Berechnungen von 60 bis 70 Prozent immunisierten Menschen aus, hochansteckende Varianten wie die Delta-Mutante haben die Schwelle nun auf über 80 Prozent angehoben. Immer mehr Experten bezweifeln mittlerweile, dass die Herdenimmunität überhaupt erreicht werden kann. Schlimm sei das aber nicht.

Wie viele Menschen müssen in einer Bevölkerung geimpft oder genesen sein, um andere indirekt mitzuschützen? Beim Masernvirus ist die Zahl mit 95 Prozent sehr hoch. Sind 95 Prozent der Bevölkerung gegen das Virus immun, ist die Wahrscheinlichkeit gleich null, dass sich die restlichen fünf Prozent an Masern erkranken. Die Zahl ergibt sich aus Beobachtungen, erklärt der medizinische Mikrobiologe Reinhard Würzner von der Medizinischen Uni Innsbruck. „Das Masernvirus ist sehr stabil, das verändert sich nicht. Da kann man in einer Bevölkerung messen, wo 80 Prozent geimpft sind, kommt es immer wieder zu Masernausbrüchen. In einer Bevölkerung, wo 95 Prozent geimpft sind, kommt es nicht zu Masernausbrüchen.“

Mutanten treiben Schwelle hinauf

So einfach ist es beim Coronavirus nicht: Anders als das Masernvirus verändert sich das Coronavirus ständig. Manche Varianten wie die Deltamutante machen das Virus erheblich ansteckender, damit ist es schwer abschätzbar, ab wann der Gemeinschaftsschutz eintreten könnte. Denn je leichter sich das Virus verbreitet, desto mehr Menschen müssen immunisiert sein, um die Verbreitung zu unterbrechen.

Hinzu kommt, dass die Impfstoffe zwar in den meisten Fällen vor einer schweren COVID-19-Erkrankung schützen, sich Geimpfte wie auch Genesene mit dem Virus aber anstecken und es auch weitergeben können. Darüber hinaus bleibt die Immunabwehr voraussichtlich nur eine bestimmte Zeit bestehen – wie lange ist noch unklar.

Diese Faktoren erschweren die Berechnung der Herdenimmunität. Immer mehr Experten bezweifeln sogar, ob sie überhaupt erreicht werden kann. Das wäre aber nicht schlimm, meint Würzner.

Herdenimmunität nicht das Ziel

„Wir müssen nur eine so hohe Durchimpfungsrate erreichen, dass wir die Infektionszahlen kontrollieren können. Wir werden dann zwar doch Patienten auf Intensivstationen haben, und Patienten, die sterben, aber es sind so viele, die wir mit unserem Gesundheitssystem verkraften können.“

Ziel sei es, die Reproduktionszahl nicht über eins steigen zu lassen, um schwer zu kontrollierende Infektionswellen zu vermeiden. „Wir können selbst viel dazu tun, indem wir uns impfen lassen. Je mehr wir impfen, desto unwahrscheinlicher ist ein Lockdown, desto unwahrscheinlicher ist es, dass wir uns besonders einschränken müssen. Desto normaler wird unser Leben sein.“

Auch das Gesundheitsministerium strebt keine Herdenimmunität an. Auf Nachfrage von ORF heißt es, es sei „auf Basis von medizinischen Daten und Fakten nicht möglich, einen fixen Ziel-Wert zu definieren, ab dem von einer Herdenimmunität gesprochen werden kann. Im Gegenteil, aus medizinischer Sicht ist demnach das Ziel, dass jede Person geimpft wird, für die die Impfung empfohlen ist.“

Erste Hürde 50 Prozent

Aktuell haben in Österreich mehr als 50 Prozent der gesamten Bevölkerung zumindest eine Impfdosis erhalten. In wenigen Wochen sollte demnach die Hälfte der Bevölkerung vollimmunisiert sein. Damit wird zumindest eine erste wichtige Schwelle überschritten, meint Würzner. „Aus den Beobachtungen aus Israel und den damals zirkulierenden Varianten – die natürlich andere sind, als die Varianten jetzt – sah man bereits: So lange die 50 Prozent nicht erreicht sind, hat es keine Wirkung. Erst ab deutlich über 50 Prozent hat die Anzahl der Geimpften einen Einfluss auf die Verbreitung des Virus.“

Wie sehr damit auch die Ausbreitung der Delta-Variante gebremst werden kann, ist unklar. In Israel und Großbritannien, wo mehr als 60 Prozent der Bevölkerung vollimmunisiert sind, steigen die Zahlen erneut deutlich an. Selbst das könnte demnach zu wenig sein, um eine unkontrollierte Ausbreitung zu verhindern.

Aktuell geht das Robert-Koch-Institut davon aus, dass mehr als 80 Prozent der Bevölkerung geimpft oder genesen sein müssen, um die Verbreitung des Virus auch ohne Schutzmaßnahmen in Zaum zu halten. Angesichts der Ausbreitungsgeschwindigkeit der Delta-Mutante sehen manche Experten wie der deutsche Immunologe Carsten Watzl die Schwelle sogar bei 85 Prozent.

Auf die österreichische Bevölkerung übertragen würde das bedeuten: Beinahe alle müssten sich impfen lassen, für die der Impfstoff derzeit zugelassen ist. Laut Statistik Austria sind nämlich 88,5 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher 12 Jahre oder älter.