Wiener Karlsplatz: Frau geht mit ihrem Hund spazieren
APA/GEORG HOCHMUTH
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„Streetonomics“

Was Straßennamen über Städte erzählen

Paris, London, New York und Wien – die Straßennamen dieser vier Metropolen hat ein aktuelles Forschungsprojekt unter die Lupe genommen. Einige auffällige Details: Im vergangenen Jahrzehnt wurden in Wien besonders viele Straßen nach Frauen benannt. Auch die Monarchie und der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg haben Spuren hinterlassen.

Zahlreiche Straßen sind nach bekannten Persönlichkeiten benannt – wer auf diese Weise geehrt wird, unterscheidet sich jedoch von Stadt zu Stadt. Im Rahmen einer Studie, erschienen im Fachmagazin „PLOS ONE“, hat ein internationales Forscherteam jetzt Wien, London, Paris und New York verglichen – und Schlussfolgerungen gezogen über die Gesellschaften, die dort beheimatet sind.

„Wir haben diese vier Städte für unsere Studie ausgewählt, weil sie im 20. Jahrhundert wichtige kulturelle Zentren waren und großen Einfluss auf den Rest der Welt hatten“, erklärt Co-Autorin und Kartographin Edyta Paulina Bogucka von der Technischen Universität in München gegenüber dem ORF.

Metropolen im Vergleich

Das internationale Forscherteam untersuchte im Rahmen der Studie insgesamt 4.932 Straßennamen in den vier Metropolen. Dabei nutzen sie mehrere Open-Source-Datenquellen, um das Straßennetz der Städte zu analysieren. Über mehrere Monate hinweg luden die Forscher Informationen über die Straßennamen und den dazugehörigen Persönlichkeiten aus dem Internet herunter, bearbeiteten und bereinigten die Daten manuell und speisten sie in eine eigens dafür erstellte Online-Karte ein, über die Interessierte nun auch selbst auf Entdeckungsreise in den Metropolen gehen können.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fokussierten sich im Rahmen der Studie auf vier Bereiche. So wollten sie anhand der Daten herausfinden, wie viele Straßen nach Frauen benannt sind, wann die Namensgeberinnen und -geber gelebt haben, welche Berufe sie ausführten und ob in den Städten auch ausländische Persönlichkeiten in den Straßennamen verewigt sind. Die Erforschung kultureller Eigenschaften anhand von Straßennamen bezeichnen die Studienautoren als „Streetonomics“.

Kulturstadt Wien

In Wien wurden 1.626 Straßennamen untersucht. „Natürlich gibt es in Wien noch mehr Straßen, die nach bekannten Persönlichkeiten benannt wurden. Im Rahmen unserer Forschung konnten wir aber nicht zu allen Namen auch Informationen finden. Daher hat sich die Zahl der untersuchten Straßen in Wien von etwa 6.900 auf 1.626 reduziert“, erklärt Bogucka. Informationen zu den Persönlichkeiten, nach denen man die Wiener Straßen benannt hatte, wurden unter anderem aus dem “Wien Geschichte Wiki“ übernommen und in den Datensatz eingespeist.

Bei der Geschlechtergerechtigkeit liegt Wien im Vergleich zu den anderen Metropolen vorne. Wurden um 1880 noch weniger als fünf Prozent der Straßen, die Namen berühmter Personen tragen sollten, nach Frauen benannt, stieg diese Zahl immer weiter an – um 2010 waren es bereits 54 Prozent. Insgesamt sind in Wien derzeit zwölf Prozent der Straßen, die Namen berühmter Persönlichkeiten tragen, nach Frauen benannt. Diese Straßen seien zwar in ganz Wien verteilt, besonders viele davon finde man jedoch im 22. Wiener Gemeindebezirk, heißt es in der Studie. Zum Vergleich: In Paris tragen auch heute noch nur etwa vier Prozent der Straßen Namen von Frauen.

Holzhochhaus in der Wiener Seestadt im 22. Bezirk
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In der Wiener Seestadt Aspern wurden sämtliche Straßen und Plätze nach Frauen benannt – etwa nach Hannah Arendt, Josefine Hawelka und Käthe Recheis.

Bogucka hält es für möglich, dass diese statistischen Unterschiede auch gesellschaftliche Werte widerspiegeln – ob die Geschlechtergerechtigkeit in Wien auch im realen Leben eine besonders wichtige Rolle spielt, lasse sich anhand objektiver Messgrößen allerdings nicht beweisen.

Die meisten Straßen in Wien wurden nach Personen benannt, die während des 20. Jahrhunderts gelebt und gewirkt haben. „Das macht auch Sinn, da in diesem Jahrhundert die Stadt extrem gewachsen ist und die Weltkriege natürlich großen Einfluss auf die Gesellschaften hatten“, so Bogucka. Persönlichkeiten aus der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, in der Wien nach den großen Schäden wiederaufgebaut wurde, seien daher besonders häufig in den Straßennamen repräsentiert.

In Bezug auf die Berufe, die von den Namensgebern der Straßen ausgeübt wurden, bleibt Wien dem Ruf als Kunst- und Kulturmetropole treu. Die Forscher fanden nämlich heraus, dass Straßen vor allem nach Künstlerinnen und Künstlern benannt wurden. Wie auch in den anderen Städten gab es im Laufe der Zeit bei den repräsentierten Berufen aber Veränderungen. So standen Personen, die militärische Berufe innehatten, in den 1860er Jahren noch auf Platz drei bei der Häufigkeit der Straßen, die nach ihnen benannt wurden. Heutzutage belegen militärische Berufe nur noch Platz neun im Wiener Straßennetz.

Das Erbe der Monarchie

In Wien lasse sich laut der Studie auch die enge Vernetzung Österreichs mit anderen europäischen Ländern erkennen. So seien laut Bogucka heute 44,6 Prozent der Straßen in der Bundeshauptstadt nach Persönlichkeiten aus dem Ausland benannt, vor allem aus mittel- und osteuropäischen Ländern – wohl auch ein Erbe der K&K-Monarchie. In den 1870er Jahren lag diese Zahl sogar bei 70 Prozent. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fiel der Anteil ausländischer Straßennamen wieder auf etwa 18 Prozent ab, stieg danach aber wieder an. „Zum Vergleich tragen in New York auch heute noch nur etwa fünf Prozent der Straßen Namen ausländischer Personen“, erklärt Bogucka.

Die Autoren weisen selbst darauf hin, dass die Studie Einschränkungen aufweist. So könnten die zur Analyse verwendeten Open-Source-Datenquellen zum Beispiel potenziell verfälscht sein, ohne dass es die Forscherinnen und Forscher merken. Dennoch sei man mit den Ergebnissen zufrieden. „Unsere Methode bietet einen alternativen Weg für Wissenschaftler, urbane Kulturen anhand von Open-Source-Daten zu analysieren. Damit können weiterführende Forschungen in dem Bereich erleichtert und beschleunigt werden“, so Bogucka, die sich jedoch selbst – wie auch das übrige Forscherteam – in Zukunft auf andere Bereiche fokussieren werde.

Die gewonnenen Daten könnten auch hilfreich für Städteplaner sein, wenn es darum geht, Straßen in Zukunft zu benennen. Die frei zugängliche Straßenkarte könne außerdem das kulturelle und historische Bewusstsein von Interessierten stärken, die sich online durch die verschiedenen Straßennamen klicken wollen.