Jahresbericht

Wissenschaftliche Integrität: Anfragen nehmen zu

Die Kommission für wissenschaftliche Integrität ist mit einer steigenden Zahl an Anfragen konfrontiert. Im Vorjahr wurde mit 61 Anfragen ein Höchstwert erreicht, heißt es im Jahresbericht 2020 der Kommission. Das Gremium sieht darin eine „begrüßenswerte“ Entwicklung, weil seine Arbeit mit wachsendem Interesse verfolgt und wahrgenommen werde.

Die Kommission ist ein Organ der 2009 als Verein gegründeten Österreichischen Agentur für wissenschaftliche Integrität (OeAWI). Ihr gehören mittlerweile alle Unis, viele große Forschungseinrichtungen und Förderagenturen sowie einige Fachhochschulen an. Die aus internationalen Experten zusammengesetzte unabhängige Kommission untersucht Vorwürfe wissenschaftlichen Fehlverhaltens in Österreich, bewertet die Schwere eines Verstoßes und unterbreitet Vorschläge für weitere Maßnahmen.

Im Zusammenhang mit der Erwartungshaltung gegenüber der Kommission, die mit der gestiegenen Aufmerksamkeit einhergehe, macht das Gremium im Jahresbericht nochmals deutlich: „Die ÖAWI gibt Stellungnahmen ab, spricht aber keine Urteile; gibt ihren Mitgliedsorganisationen klare Empfehlungen, ist aber nicht für deren Umsetzung verantwortlich“, schreibt der Schweizer Germanist Philipp Theisohn, der seit Dezember des Vorjahres neuer Vorsitzender der ÖAWI-Kommission ist.

Nicht nur die Zahl der Anfragen, auch jene der in der Kommission verhandelten Fälle bleibt hoch: Insgesamt 26 wurden 2020 von der Kommission verhandelt, 19 davon abgeschlossen. Im Jahresbericht werden diese in anonymisierter Form beschrieben. Demnach betraf wieder ein großer Teil der 19 abgeschlossenen Fälle mutmaßliche Plagiate, meist bei Dissertationen. Auch Konflikte um Autorenschaft und Vorwürfe mutmaßlichen wissenschaftlichen Fehlverhaltens kamen öfters vor

Gravierende Verstöße festgestellt

Das Gremium musste sich auch mit „massiven Anschuldigungen“ hinsichtlich Autorschaftskonflikte, Plagiaten sowie Forschungs- und Karrierebehinderung auseinandersetzen, nachdem sich eine Forschungsförderungseinrichtung und vier Jungwissenschafterinnen einer österreichischen Hochschule an die ÖAWI wandten: Die Kommission stellte bei dem hauptbeschuldigten Professor „maßgebliche Verletzungen der wissenschaftlichen Integrität fest“, die gemäß den Richtlinien zur Guten Wissenschaftlichen Praxis u.a. einen verantwortungsbewussten und fairen Umgang mit Nachwuchswissenschaftlerinnen erfordert. Diese Kriterien seien seitens des Professors wiederholt und systematisch verletzt worden.

„Besonders schwerwiegend“ sei, dass sich die Hinweisgeberinnen bereits über Jahre an verschiedene Stellen des Instituts gewandt hatten, ohne dass dies zu Konsequenzen geführt hätte. Daher liege der Schluss nahe, „im betreffenden Fall sehr deutliche Anzeichen zur Duldung gravierender, über Jahre bestehende Verstöße gegen die Regeln Guter Wissenschaftlicher Praxis seitens der Institutsleitung konstatieren zu müssen“. Die Kommission gab dem Institut „die dringende Empfehlung zur internen Einsetzung einer Untersuchungskommission, um die vorgebrachten Verletzungen wissenschaftlicher Integrität aufzuarbeiten und begangenes wissenschaftliches Fehlverhalten, soweit möglich, wiedergutzumachen“.

Auch Fälle zum Schmunzeln

Neben solch gravierenden Fällen gab es aber auch Fälle, die wohl dem einen oder anderen Kommissionsmitglied ein Schmunzeln entlockt haben könnten: So ersuchte eine Antragstellerin die Agentur um Abklärung, ob ein ihr in der Bewertung nicht genehmes externes Gutachten zu ihrer an einer österreichischen Uni eingereichten Dissertation annulliert und durch ein drittes Gutachten ersetzt werden könne.

Der Hintergrund: Der Erstbetreuer hatte die Arbeit mit einer besseren Note bewertet als der von der Antragstellerin selbst gewünschte externe Gutachter. Sie verfasste daraufhin eine mehrseitige Kritik am Gutachten und warf dem Autor wissenschaftliches Fehlverhalten vor. Die Kommission kam zum Schluss, dass das externe Gutachten in seiner Gültigkeit nicht anzuzweifeln wäre und die Versuche der Antragstellerin, das nicht genehme Gutachten durch ein drittes zu ersetzen, wissenschaftlich unredlich seien. Zudem läge mit der Unterstellung von unsauberem wissenschaftlichen Vorgehen wissenschaftliches Fehlverhalten ihrerseits vor.

Parallele Ideen

Auch die Frage, ob Ideendiebstahl vorliegen könnte, wenn zwei thematisch sehr ähnlich ausgerichtete Institute/Lehrstühle anlässlich einer aktuellen Fragestellung nahezu zeitgleich E-Mail-Umfragen annähernd identer Thematik über denselben Verteiler an eine eng begrenzte Berufsgruppe in Österreich aussenden, beschäftigte die Kommission. Das Gremium hält die Inhalte beider Umfragen für „naheliegend“ und „wenig originell“, es sei als wahrscheinlich anzunehmen, dass zwei Wissenschaftlergruppen mit ähnlichen Forschungsgebieten anlässlich einer aktuellen, zuvor noch nie dagewesenen Situation unabhängig voneinander auf die gleichen Ideen kommen und ähnliche Umfragen/Experimente durchführen.

Eine Wissenschaftlerin wandte sich wegen eines mutmaßlichen Plagiatsfalles an die Kommission, bei dem ein Graduate Student einer österreichischen Uni eine sehr wertschätzende Rezension der Dissertation der Antragstellerin in einem Journal verfasst hat, wobei zwei Drittel davon die Dissertation im Wortlaut paraphrasiert haben. Für die Kommission wurde die Grenze zwischen Plagiat und Paraphrase „zwar mehrfach überschritten“, wissenschaftliches Fehlverhalten des Beschuldigten stellte sie aber in diesem speziellen Fall nicht fest, "da die ausschließliche Bezugnahme des Rezensenten auf das vermeintlich plagiierte Werk durch das Genre der ‚Rezension‘ bereits deutlich markiert war.