Psychologe Nicholas Holmes
SPENCER CARTWRIGHT 2012
SPENCER CARTWRIGHT 2012
Selbstkritik

„Sie hielten mich für verrückt“

Nicholas Holmes hat auf Twitter eine schonungslose Kritik seiner eigenen Forschung veröffentlicht. Wissenschaft, so der britische Psychologe, sei auf einem Auge blind: „Wir sollten auch Fehlschläge und langweilige Resultate veröffentlichen – aber dafür scheint sich niemand zu interessieren.“

science.ORF.at: Herr Holmes, man könnte es als Sozialexperiment bezeichnen, was Sie kürzlich auf Twitter publik gemacht haben. Warum haben Sie sich einer öffentlichen Selbstkritik unterzogen?

Nicholas Holmes: Die Sache geht zurück auf eine Idee der Open-Science-Bewegung: Nämlich, dass sich Wissenschaftler gegenseitig überprüfen, um festzustellen, wie offen ihre Forschung tatsächlich ist. Das löste einige Kontroversen aus, manche hatten ein Problem damit, dass sie von anderen bewertet werden sollten, also dachte ich mir: Dann evaluiere ich mich eben selbst. Und nachdem ich in den letzten anderthalb Jahren kaum jemanden aus der Wissenschaftsgemeinde getroffen habe, entschied ich mich für Twitter.

Wie reagierten Ihre Kollegen und Kolleginnen?

Zur Person

Nicholas Holmes lehrt und forscht im Fach Psychologie an der University of Nottingham.

In seinem Podcast „The Error Bar“ bespricht er regelmäßig kontroversielle Ergebnisse der Neurowissenschaft, sein Resümee in Sachen Selbstkritik veröffentlichte er kürzlich in „Nature“: I critiqued my past papers on social media — here’s what I learnt.

Holmes: Auf Twitter waren die Reaktionen durchwegs positiv. Auch an meinem Institut. Meine Kollegen und Studenten kennen mich gut genug, um zu wissen, dass ich Ihnen das Leben nicht schwermachen werde. Aber es gab auch einige Leute, die mich für verrückt erklärten. Manche sagten, das sei mutig von mir. Ich finde weder das eine noch das andere zutreffend: Was ich auf Twitter veröffentlicht habe, ist schlicht das, was gesagt werden sollte – und was man auf ähnliche Art auch bei einer Konferenz besprechen würde.

Was kritisieren Sie an Ihrer eigenen Forschung und an der Ihrer Kollegen?

Holmes: Ich glaube, der am meisten verbreitete Fehler ist, nicht an die Zukunft zu denken. Wenn man eine Studie plant, hat man meistens eine ganz gute Forschungsidee. Aber man denkt die Studie nicht in allen Stadien durch, zum Beispiel die Statistik oder die Kontrollexperimente, die man verwenden wird. Das ist auch okay so, nur muss man es den Leuten eben mitteilen. Was meine eigenen Veröffentlichungen betrifft: Ich habe die meisten Papers so geschrieben, als wäre alles exakt nach Plan verlaufen. So ist es natürlich nicht. Das bereue ich rückblickend.

Psychologe Nicholas Holmes mit einer EEG-Haube im Labor
Nick Holmes, University of Nottingham
Nick Holmes (rechts) bei der Arbeit

Einige Ihrer Studien beschäftigen sich mit dem menschlichen Körperbild. Die Idee ist, dass sich der Gebrauch von Werkzeugen in die Hirnströme einschreibt und das Werkzeug dadurch sozusagen Teil des eigenen Körpers wird – stimmt das nun oder nicht?

Holmes: Ich habe meinen PhD zu diesem Thema gemacht und finde die Arbeiten, die ich später dazu veröffentlicht habe, eigentlich recht gut. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, die Hypothese hält trotz aller Kritik, die ich an meinen Experimenten üben würde. Wenn man ein Werkzeug verwendet, verändert sich die Repräsentation des Werkzeugraumes im Gehirn. Wobei ein Werkzeug vieles sein kann, zum Beispiel Schuhe, Kleidung oder Kopfhörer.

Wenn ich meine Armbanduhr nicht trage, fühlt sich das an, als hätte ich eine Leerstelle am Handgelenk: Ist das das Phänomen, das Sie beschreiben?

Holmes: Genau, wir nennen es „clothing effect“. Das Gehirn passt sich automatisch an alle Dinge an, die mit unserem Körper in Kontakt kommen. Das muss auch so sein, sonst könnten wir diese Dinge gar nicht verwenden.

In einem aktuellen „Nature“-Artikel schrieben Sie, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in jungen Jahren sehr selbstkritisch sind, ihnen diese Fähigkeit im Laufe der Karriere allerdings abhandenkommt. Wo liegt das Problem?

Holmes: Wenn meine Studenten ihre Master-Arbeiten oder Dissertation abgeben, sind sie daran interessiert, alles richtig zu machen und eine gute Note zu bekommen. Dazu gehört auch, dass man thematisiert, was alles schiefgelaufen ist. Wenn Sie etwas über wissenschaftliche Methoden lernen wollen, empfehle ich die Lektüre solcher Arbeiten. Studenten und Studentinnen sind oft von einer brutalen Ehrlichkeit, sie zeigen uns, was funktioniert und was nicht funktioniert. Warum ist das so? Ich denke, weil sie in diesem Stadium nur an ihren Abschluss denken, aber nicht unbedingt daran, was sie in Zukunft publizieren werden. Und auch nicht daran, wie sie an Jobs oder Fördergelder rankommen.

Angenommen, Sie hätten Ihre Selbstkritik veröffentlicht, bevor Sie Professor an der Uni wurden: Das hätte Ihrer Karriere auch schaden können, oder?

Holmes: Die Open-Science-Bewegung hat einiges verändert in der Psychologie. Ich denke, heutzutage wäre es schon okay, so etwas als Jungwissenschaftler zu tun. Aber Sie haben schon recht, vor 15 Jahren hätten die Leute vermutlich gesagt: Das ist ein Verrückter, der nicht mal seiner eigenen Arbeit vertraut.

Was sollte man aus Ihrer Sicht ändern im Wissenschaftsbetrieb?

Holmes: Letztlich geht es in der Wissenschaft um Publikationen, um Jobs und um Geld. Wir wollen Arbeiten mit aufregenden Resultaten publizieren, wir wollen, dass diese Arbeiten einflussreich sind und möglichst oft zitiert werden. Das hilft wiederum, an Fördergelder zu kommen und auch an Jobs. Das alles führt dazu, dass nur mehr die positiven Resultate veröffentlicht werden. Dadurch ergibt sich ein einseitiges Bild. Was nicht funktioniert, bleibt unter Verschluss. Diese Informationen bräuchten wir aber ebenso. Erst kürzlich habe ich in einem Tweet einer Kollegin gelesen: Wenn die Experimente gut sind, aber nichts grundlegend Neues bringen, schlagen die Fachjournale die Türe zu. So läuft das im Wissenschaftsbetrieb, und das ist ein Problem.

Spektakuläre Entdeckungen sind natürlich eher für Schlagzeilen geeignet als gescheiterte Experimente – interessanterweise scheinen sich auch die renommierten Journale so einer medialen Logik zu bedienen.

Holmes: Ich würde sogar sagen, dass das auf fast alle Journale zutrifft. Wir sollten auch Fehlschläge und langweilige Resultate veröffentlichen – aber dafür scheint sich niemand zu interessieren. Man sollte Fachzeitschriften und Wissenschaftler davon überzeugen, dass die Fragestellung das eigentlich Interessante ist und nicht die Antwort.

Wie gehen Sie in Ihrer eigenen Forschungsgruppe mit dieser Schieflage um?

Holmes: In unserem Labor gibt es eine Datenbank, in der jedes Projekt, jedes Experiment und jeder Arbeitsschritt dokumentiert wird. So halten wir die Dinge transparent. Und dann gibt es noch die Idee des „negativen Lebenslaufes“. Damit meine ich, dass man nicht nur über die größten Erfolge und die wichtigsten Publikationen berichtet, sondern ebenso über das Scheitern. Das zeigt unseren jungen Kollegen, wie die Wissenschaft wirklich ist: Manchmal braucht man Glück, manchmal braucht es Hartnäckigkeit, das Scheitern gehört jedenfalls dazu.

Haben Sie den „negativen Lebenslauf“ bei Bewerbungsgesprächen schon eingefordert?

Holmes: Wir haben schon länger niemanden mehr eingestellt, aber beim nächsten Mal werde ich das auf jeden Fall machen. Und ich werde auch die Namen der Zeitschriften, in denen etwas publiziert wurde, von den Lebensläufen entfernen. Um wegzukommen von der Fixierung auf High-Impact-Journale.

Wenn Sie alles ändern könnten – wie würde die Wissenschaft in einer idealen Welt aussehen?

Holmes: Die Fachjournale abzuschaffen wäre schon mal ein guter Beginn. Wir brauchen frei verfügbare Daten und mehr Interaktion: Ich sehe eine wissenschaftliche Publikation nicht so sehr als Abbild der Vergangenheit, sondern als etwas, das sich verändert, etwas Lebendiges.

Was wohl gegenseitige Kritik mit einschließt. Das Problem ist: Mit Kritik macht man sich nicht nur Freunde.

Holmes: Stimmt, aber das kann sich ändern. Vielleicht sind die Kritisierten im nächsten Jahr wieder deine Freunde.