Eine Japanerin träkt eine Coronavirus-Maske mit der Aufschrift „Tokyo 2020“
AFP – FRANCK FIFE
AFP – FRANCK FIFE
Tokyo 2020

„Games against the people“

Am Freitag haben die Olympischen Spiele in Tokio begonnen: ein mediales Großereignis, das in Japan nicht erst seit der Coronavirus-Pandemie ungeliebt ist. „Games against the people“ nennt sie der Japanologe Wolfram Manzenreiter – und erklärt, wie es dazu gekommen ist.

Um ein Jahr verschoben, blieb dem Event der Name „Tokyo 2020“ aus dem Vorjahr erhalten. Zuschauerinnen und Zuschauer wird es bei den Wettkämpfen in den 33 Sportarten aber nicht geben – die japanische Regierung rief noch vor den Spielen den „Virusnotstand“ in der japanischen Hauptstadt aus, der bis 22. August andauern soll.

Bisher recht gut mit Corona umgegangen

Seit dem Ausbruch der Pandemie wurden in Japan – verglichen mit anderen Ländern – relativ wenige Todesfälle in Verbindung mit Covid-19 gemeldet. Bis heute sind es etwa 15.000 Japanerinnen und Japaner bei 126 Millionen – oft älteren und damit risikobehafteten – Einwohnern.

Porträtfoto des Japanologen Wolfram Manzenreiter
Uni Wien

Der Japanologe Wolfram Manzenreiter ist stvt. Leiter des Instituts for Ostasien-Wissenschaften an der Uni Wien, vor Kurzem hat er mit Kollegen das Buch „Japan Through the Lens of the Tokyo Olympics“ herausgegeben (Open Access).

Laut dem Japanologen Wolfram Manzenreiter von der Universität Wien hat das mehrere Gründe: „In Japan gibt es ein recht striktes Regelsystem für den Umgang mit dem Coronavirus.“ Zum Teil seien die relativ geringen Fallzahlen auch auf die japanische Kultur generell zurückzuführen, Intimität finde dort zum Beispiel nicht unbedingt auf körperlicher Ebene statt. „Es kann sogar sein, dass man sich innerhalb von Familien kaum berührt“, so Manzenreiter.

Andererseits gebe es aber auch eine andere Zählweise der Coronavirus-Todesfälle. „Japan galt, was die Pandemie-Überwachung angeht, ein bisschen als ‚schwarzes Loch‘. Während der ersten Infektionswelle musste zum Beispiel eine ganze Reihe an Kriterien erfüllt werden, damit man in die Coronavirus-Statistik überhaupt aufgenommen wurde“, erläutert Manzenreiter. Dazu zählten zum Beispiel Symptome wie steigendes Fieber an drei aufeinanderfolgenden Tagen. „In anderen Ländern hätten da schon längst die Alarmglocken geläutet“, so der Japanologe. Es sei also möglich, dass die Dunkelziffer, der mit dem Coronavirus in Verbindung stehenden japanischen Todesfälle, relativ groß ist.

Leere Sitze einer Veranstaltungsarena von „Tokyo 2020“
AFP – THOMAS COEX

„Recovery Games“: Vom Regen in die Traufe

Schon vor der Pandemie stand „Tokyo 2020“ unter keinem glücklichen Stern – entgegen den ursprünglichen Absichten. Denn zehn Jahre nach dem großen Seebeben und der Atomkatastrophe von Fukushima sollte „Tokyo 2020“ als eine Art „Recovery Games“ (dt. „Erholungs-Spiele“) gelten. „Die Inszenierung als ‚Recovery Games‘ hat in Japan nicht nur Begeisterungsstürme bei der Bevölkerung ausgelöst – ganz im Gegenteil“, so Manzenreiter. Viele Personen – vor allem aus Regionen, die von früheren Katastrophen und Umweltdesastern betroffen waren – würden es demnach „alles andere als erstrebenswert“ finden, dass wegen der Olympia-Baumaßnahmen Handwerker und Materialien nach Tokio abgezogen wurden und daher in diesen Regionen die Bauzeiten und -preise anstiegen.

Das Coronavirus habe diese Gefühle noch einmal deutlich verstärkt. „Die japanischen Grenzen waren seit dem Ausbruch der Pandemie außerdem fast schon hermetisch abgeriegelt“, so Manzenreiter. Sogar Personen, die ein unbeschränktes Daueraufenthaltsrecht in Japan haben, sei die Wiedereinreise in das Land verwehrt worden. „Diese extreme Reduktion des Austausches mit Personen aus dem Ausland hat die Bevölkerung natürlich mitbekommen – umso schwerer ist es in der jetzigen Situation, den Japanerinnen und Japanern zu vermitteln, warum auf einmal für ein Sportevent so viele Leute in das Land hineindürfen.“ Zuschauer in den Stadien wird es zwar bei den heurigen Olympischen Spielen keine geben, die Zahl der daran beteiligten Sportlerinnen und Sportler und deren Begleitpersonen ist aber dennoch groß.

Olympische Flagge von „Tokyo 2020“
AFP – ANDREJ ISAKOVIC

Athleten reisen oft uninformiert nach Japan

Zusammen mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) wurde von Japan in den letzten Monaten ein digitales Regelbuch für die anreisenden Athletinnen und Athleten entwickelt. „Darin wurde exakt festgelegt, unter welchen Bedingungen die Sportler in das Land reisen dürfen und was sie dort beachten müssen“, so Manzenreiter. Um die Infektionen im Olympischen Dorf so gering wie möglich zu halten, gebe es unter anderem eine lückenlose Überwachung des Informationsaustausches mit anderen Ländern und klare Begrenzungen der bewilligten Aufenthaltsorte für die Olympioniken. „Grundsätzlich sind in diesem Regelbuch alle möglichen Szenarien beschrieben und wie man sich dabei verhalten sollte“, so der Japanologe.

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„In der Praxis sieht es aber so aus, dass viele Anreisende gar nicht wissen, was in dem Buch steht“, erklärt Manzenreiter. Laut ihm gab es bereits Kritik von Personen beim japanischen Zoll darüber, dass über die Hälfte der zu den Spielen anreisenden Personen nicht einmal die für das Regelbuch notwendige App heruntergeladen hätten. Dadurch würden in einigen Bereichen längere Wartezeiten und somit auch größere Menschenansammlungen entstehen, die in Pandemiezeiten zu Problemen führen könnten, so Manzenreiter.

Negative Umfragen

Neben der Kritik der Zollbeamten gibt es laut dem Japanologen auch Unzufriedenheit über Personen, die für die Olympischen Spiele keine essenzielle Bedeutung haben, aber trotzdem versuchen, ins Land zu kommen. „Die Kritik an schlecht vorbereiteten Funktionären, Freelancern, Journalisten und Personen, die ihre minderjährigen Familienangehörigen mit ins Land hineingebracht haben, ist groß“, erklärt Manzenreiter. Einige davon wurden bereits wieder nach Hause geschickt, andere nicht. „Das hat dazu geführt, dass wir mit Stand Mittwoch (21. Juli) bereits auf dem besten Weg zu 100 Covid-Infektionen im Olympia-Umfeld sind“, so der Japanologe.

Die Olympischen Spiele in Tokio würden von der japanischen Bevölkerung deshalb eher in einem negativen Licht betrachtet – wovon auch aktuelle Umfragewerte zeugen. „Viele möchten, dass die Spiele aufgrund der aktuellen Situation heuer nicht stattfinden oder noch einmal verschoben werden“, so der Japanologe, der hinzufügt: „Diese Forderungen werden aber von der Regierung und dem Olympischen Komitee nicht berücksichtigt. Was wir daher heuer in Japan erstmals sehen, sind nicht ‚Games for the people‘, sondern ‚Games against the people‘.“

Tokyo 2020
AFP – PHILIP FONG

Olympia-Vorbereitungen in den Schulen

Dass „Tokyo 2020“ von der japanischen Bevölkerung nun eher in einem negativen Licht betrachtet wird, scheint überraschend, da die Spiele sogar in den Stundenplänen der Schülerinnen und Schüler behandelt werden. „Ein Aspekt, der in Japan bereits bei den Spielen im Jahr 1964 erfolgreich eingeführt worden ist und auch bei den Olympischen Winterspielen 1998 in Nagano ausgeübt wurde, war die Vorab-Information der Bevölkerung über das japanische Bildungssystem“, so Manzenreiter.

In den Schulen wurde dabei die positive Philosophie der Spiele, den sportlichen Wettkampf als friedliches Miteinander zu betrachten, gelehrt. Manzenreiter nennt Beispiele: „Im Englisch-Unterricht ging es zum Beispiel um Internationalisierung, in Gesellschaftskunde unter anderem um die Traditionen Japans und wie man sie stolz nach außen hin präsentiert und um die Gastfreundschaft, damit die Gäste von den japanischen Kindern auch ordentlich begrüßt werden.“

Ob die Olympische Erziehung in den Schulen auch tatsächlich das japanische Verständnis über die Spiele verändert hat, könne Manzenreiter nur schwer einschätzen. Aktuell ist das Gegenteil der Fall: „Die Weigerung der Regierung, auf die Interessen der Bevölkerung und deren Kritik an den Spielen zu hören, dürften genau den konträren Effekt haben wie der Unterricht in Gastfreundschaft und Co.“ Manzenreiter geht daher davon aus, dass sich auch Japan der immer länger werdenden Liste von Ländern anschließen wird, die sich bei Meinungsumfragen dezidiert als „nicht interessiert“ an einer erneuten Austragung von Olympischen Spielen ausgesprochen haben.