Fachkongress: Karlheinz Brandenburg in der Messe Wien
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Interview

MP3-Erfinder plant „Brille fürs Ohr“

Mit der Erfindung des Audioformats MP3 hat Karlheinz Brandenburg die Musikindustrie revolutioniert. Im ORF-Interview spricht der deutsche Wissenschaftler über den Niedergang der Klangqualität, ihre Ursachen und das nächste große Ding seiner Forschung: einen intelligenten Kopfhörer, der wie eine Art Brille fürs Ohr funktionieren soll.

science.ORF.at: Herr Brandenburg, das MP3-Format hat die Musik transportabel gemacht und war wohl ähnlich einflussreich wie die Erfindung der Schallplatte – begonnen hat die Revolution allerdings recht unspektakulär: nämlich als Untersuchungsthema Ihrer Dissertation.

Karlheinz Brandenburg: Richtig, mein Doktorvater hatte sich damals die Frage gestellt: Was kann man denn mit ISDN Schönes machen? Seine Idee war, über die 128 Kilobit die Musik zu den Leuten nach Hause zu bringen. Dafür hat er ein Patent angemeldet – und der Patentprüfer sagte: Geht nicht, gibt’s nicht. Es gab also kein Patent. Dann hat Seitzer sich einen Doktoranden gesucht, der sich das genauer anschauen sollte. Das war ich. Nachdem ich mir das angesehen hatte, dachte ich: Nach Stand der Technik hat der Patentprüfer wirklich recht, aber es wird schon eine Dissertation draus werden.

Zur Person

Karlheinz Brandenburg verbrachte den Großteil seiner Forscherlaufbahn am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen, wo er mit seinem Team auch das MP3-Format entwickelte. Heute leitet er die von ihm gegründeten Brandenburg Labs.

Bei der Jahrestagung für Akustik in Wien erhielt er kürzlich die Helmholtz-Medaille für sein Lebenswerk – und hielt dort auf Einladung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften den Vortrag: „Von mp3 zu PARty“

Das Grundprinzip von MP3 ist, in den digitalen Musikdaten all das wegzulassen, was man nicht hören kann. Warum ist das so schwierig?

Brandenburg: Das Dumme ist: Man kann nicht einfach etwas wegnehmen, das würde der Hörsinn sofort bemerken. Man muss zum Beispiel die Übertragung vom Gehör ins Gehirn berücksichtigen, diesen Mechanismus mussten wir nachbilden. Die Sinneshärchen im Ohr bewegen sich je nach Schallfrequenz unterschiedlich, auch das mussten wir berücksichtigen für die Frequenzaufteilung des Signals. Dann gab es noch die Frage: Wie packt man das Ganze effizient zusammen? Und die größte Frage war: Die Datei ist jetzt sehr vereinfacht – aber wie sehr darf ich vereinfachen, ohne dass die Unterschiede hörbar sind? Da mussten wir viel hören, verstehen, warum das so ist – und immer wieder nachbessern.

Es heißt, bei diesem Prozess hat das Lied „Tom’s Diner“ von Suzanne Vega eine Schlüsselrolle gespielt.

Brandenburg: Die Acapella-Version wohlgemerkt. Ich habe Suzanne Vegas Stimme für diese Tests ausgewählt, weil sie hohe und tiefe Frequenzen beinhaltet, und auch weil in dem Lied wichtige Eigenschaften menschlicher Sprache enthalten sind. Als wir unser System mit dem Lied das erste Mal getestet haben, hörte es sich zunächst schauderhaft an. Stimmen waren immer schwieriger darzustellen als etwa klassische Musik und Suzanne Vegas ganz besonders. Deswegen hat uns das Lied noch lange Zeit begleitet. Suzanne Vega kennt die Geschichte übrigens, irgendjemand nannte sie einmal die „Mutter von MP3“, das hat ihr Spaß gemacht. Als sie uns einmal am Fraunhofer-Institut in Erlangen besuchte, stellte sie fest: Aha, da gibt’s ja nicht nur den Karlheinz Brandenburg, sondern noch andere Väter von MP3. Und da hat sie sich wohl überlegt, ob das so eine gute Idee war mit der Mutter – bei so vielen Vätern.

Ist das eine Art von Musik, die Sie auch privat hören?

Brandenburg: Folkrock durchaus, ja. Wir haben das nie formal nachgewiesen, aber es gab übrigens den Verdacht, dass Menschen bei Musikstilen, die sie mögen, besonders kritisch hinhören. Wir hatten in den Tests auch ein Hardrock-Stück, mit dem wir alle nichts anfangen konnten. Aber es gab einen Mitarbeiter, der war ein Fan dieser Art von Musik. Und konnte bei dem Stück sichtbar mehr Unterschiede hören als die anderen.

Wann wurde Ihnen klar, dass das, was Sie mit Ihren Kollegen entwickelt haben, etwas wirklich Großes ist?

Brandenburg: Ich erinnere mich, im Jahr 1988 – da waren wir mit MP3 noch lange nicht durch – bekamen wir Besuch von einem Professorenkollegen meines Doktorvaters. Er interessierte sich für meine Dissertation, und ich sagte zu ihm: Wenn es nichts wird, landet die Arbeit in der Bibliothek. Und wenn es gut geht, haben wir Millionen von Nutzern. Dass ich damit um den Faktor tausend daneben lag, konnte ich mir damals nicht vorstellen. Um 1997 herum, als allmählich FTP-Sites mit nicht autorisierter Musik an US-amerikanischen Unis auftauchten und die ersten MP3-Player gebaut wurden, da hatten wir schon das Gefühl: Ja, da rollt jetzt eine Lawine. Und als ich ein paar Jahre später in Hongkong vor dem Schaufenster eines Elektronikladens stand und dort 30 verschiedene MP3-Player sah, dachte ich mir: Okay, jetzt haben wir es geschafft. Jetzt sind wir weltweit durch damit.

Das war wann?

Brandenburg: Anfang der 2000er, kurz bevor Apple mit dem iPod auf den Markt kam.

Fachkongress: Karlheinz Brandenburg bei einem Vortrag in der Messe Wien
ÖAW/Daniel Hinterramskogler
Karlheinz Brandenburg bei der Jahrestagung für Akustik in Wien

Das bringt uns zur Ökonomie der Angelegenheit. Technologisch war MP3 ein Erfolg, wirtschaftlich fällt die Bilanz allerdings gemischt aus. Wie sehen Sie das?

Brandenburg: Lizenztechnisch haben wir im Team und am Fraunhofer-Institut sehr viel richtig gemacht, da kam eine hohe zweistellige Zahl an Millionen Euros herein. Mit diesem Geld wurde ein Forschungsbereich mit 200 Leuten aufgebaut. Und das Geld fließt noch immer in die Forschung, die MP3-Patente sind bereits ausgelaufen, aber es gibt einige Nachfolgeverfahren.

Von den Patenten haben auch die Mitglieder des Entwicklerteams profitiert, über Geld spricht man zwar nicht …

Brandenburg: … Sagen wir so: Es hat dafür gereicht, dass ich eine Firma gründen konnte. Bei der Brandenburg-Labs GesmbH sind wir zehn Leute, die jetzt versuchen, die Audiowelt neu aufzurollen.

Was ich vorhin mit „gemischter Bilanz“ meinte: Auf der Patentseite wurden Erträge erwirtschaftet, aber bei der Hardware haben andere das große Geschäft gemacht.

Brandenburg: Das stimmt. Es gab zwar Neugründungen in Deutschland und diese Firmen haben einige Jahre gut gelebt mit ihren Geräten, aber groß wurden sie nicht. Auch mit der Software allein hatte niemand großen Erfolg. Im Endeffekt hatte den nur Apple mit dem iPod. Steve Jobs hat erkannt: Es braucht ein gutes User-Interface und das Gerät muss eine Aura haben. Wobei Jobs es auch geschafft hat, den Plattenbossen ins Gewissen zu reden und sie von neuen Geschäftsmodellen zu überzeugen. Davor gab‘s ja nur die CD oder den Download der gesamten CD zum mindestens gleichen Preis, das hat natürlich niemanden interessiert.

Kritiker sagen: Mit der Verbreitung von MP3 wurde die Klangqualität von Musik zu Grabe getragen.

Brandenburg: Da muss ich massiv widersprechen. Das Problem bei der Klangqualität ist die sogenannte Dynamikkompression. Die Leute wollen immer lauter hören – und das erreicht man, in dem es kaum mehr Unterschiede zwischen den leisesten und lautesten Stellen gibt. Dass dabei wesentliche Aspekte von Musik verloren gehen, ist klar. Aber das hat nichts mit MP3 zu tun. MP3 ist sicher nicht perfekt, aber das Nachfolgeverfahren AAC ist so gut, dass ich mich bei einer ausreichenden Bitrate traue, mit beliebigen Personen Blindtests zu machen.

Dass der sogenannte „loudness war“ der Musik geschadet hat, trifft sicher zu. Es wird aber Musik häufig so produziert, dass sie als MP3 auf Handy- oder Computerlautsprechern annehmbar klingt – aber nicht unbedingt auf Stereoanlagen.

Brandenburg: Da müssten Sie die Mixer im Studio fragen. Ich befürchte, dass sie damit recht haben. Nur würde ich das nicht MP3 anlasten. Es hat wohl eher mit den Billigstkopfhörern zu tun. Und mit den Brüllwürfeln, wie ich sie nenne. Wobei: Als Kind habe ich die Musik aus dem Mittelwellenradio gehört – und sie immer noch genossen.

Vor zwei Jahren sind Sie in den Ruhestand getreten – beziehungsweise in den „Unruhestand“, wie Sie das einmal ausgedrückt haben. Was sind nun Ihre Pläne?

Brandenburg: 2019 bin ich aus dem Fraunhofer-Institut ausgeschieden, war dann noch ein halbes Jahr an der Uni, und als es um die Verlängerung der Professur ging, wurde mir klar: Das Schreiben von Projektanträgen geht mir zu zäh, ich brauche meine Freiheit und will jetzt Dinge in meiner eigenen Firma umsetzen. Die große Idee ist: Wir wollen das normale Hören revolutionieren – mit entsprechenden Kopfhörern.

Was kann man sich darunter vorstellen?

Brandenburg: Es beginnt mit Alltäglichem, wie zum Beispiel Telefonkonferenzen. Jetzt ist es so: Wenn das Ganze auf einem Kanal übertragen wird und zwei Leute reden gleichzeitig, dann versteht man nichts mehr. Im wirklichen Leben ist das hingegen kein Problem, ich kann mich sehr wohl auf eine Person konzentrieren, wenn zwei gleichzeitig reden. Das geht mit der Wiedergabe über Kopfhörer bisher nicht, obwohl schon ewig daran geforscht wird. Und da denken wir, dass wir den Durchbruch geschafft haben. Mit unseren Kopfhörern hat man das Gefühl: Da und da sind die Leute.

Wie weit könnte sich dieser Ansatz entwickeln?

Brandenburg: Die große Idee ist der intelligente Kopfhörer, das wurde auch schon KI-unterstütztes selektives Hören genannt. Beziehungsweise auch: PARty – „personalized auditory reality“. Das Akronym haben meine Mitarbeiter erfunden, ich liebe es. Bei dieser Technologie geht es um Folgendes: Ich habe einen Kopfhörer auf und höre besser, aber ich merke es gar nicht. Ähnlich wie bei einer Brille.

Inwiefern besser?

Brandenburg: Es gibt Einwirkungsmöglichkeiten. Man kann zum Beispiel Störgeräusche verringern, aber sie sollen sich immer noch natürlich anhören. Man kann auch die Stimme einer bestimmten Person verstärken. Wobei die Stimme nicht direkt ins Ohr quaken, sondern sich so anhören soll, als würde diese Person ein oder zwei Meter von mir entfernt stehen.

Das heißt, man hätte ein Interface zur Verfügung, mit dem man Person A anwählt und Person B leiser macht?

Brandenburg: Zum Beispiel. Wichtig ist, dass das System die akustischen Eigenschaften des Raumes erkennt. Daran arbeiten wir.

Wie lange wird es dauern, bis der intelligente Kopfhörer auf den Markt kommt?

Brandenburg: Erste Versionen könnte es in zwei Jahren geben. Die Vollausstattung wird noch dauern, vielleicht fünf, vielleicht auch zehn Jahre. Aber mit Prognosen lag ich schon öfter daneben.