Ein Pärchen macht einen Spaziergang bei Sonnenschein.
APA/dpa/Mohssen Assanimoghaddam
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Pandemie

Liebe und Arbeit: Prekäre Angelegenheiten

Liebes- und Arbeitsverhältnisse sind schon einmal stabiler gewesen – die Pandemie hat diesen Trend zur Prekarisierung verstärkt, meint die Soziologin Christine Wimbauer. Sie hat die Situation prekär beschäftigter Singles und ebensolcher Paare verglichen – und verrät im Interview, was wir von ihnen lernen könnten.

Gesellschaftlich spricht sich Christine Wimbauer von der Humboldt-Uni zu Berlin für eine Wiederabsicherung prekärer Arbeitsverhältnisse aus. Und sie rät dazu, Anerkennung nicht nur in der Erwerbsarbeit oder in der Partnerschaft zu suchen.

In dem gemeinsam mit ihrer Kollegin Mona Motakef verfassten Buch „Prekäre Arbeit, prekäre Liebe“ beschreibt die Soziologin, wie unsichere Lebensverhältnisse entstehen. Die beiden Forscherinnen befragten dazu Paare und Singles mit prekärer Beschäftigung, also flexiblen Arbeitszeiten und oft ohne ausreichende soziale Absicherung, zu ihrer allgemeinen Biografie, Arbeitssituation und ihrem Privatleben. Die Studie wurde vor Beginn der Pandemie geschlossen, anlässlich des Kongresses “Post-Corona-Gesellschaft?“ (23.-25. August 2021) der Österreichischen und Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Wien aktualisierte Wimbauer nun ihre Ergebnisse.

science.ORF.at: Sie untersuchen prekäre Arbeits- und Liebesverhältnisse in unserer Gesellschaft. Wie fällt ihr Fazit in Zeiten von COVID-19 aus?

Christine Wimbauer: Die Pandemie führt uns eindringlich die grundlegende Verletzbarkeit und die Unsicherheit allen Lebens vor Augen. Im Angesicht des Virus sind wir alle verletzbar. COVID-19 betrifft uns alle, aber dennoch auf unterschiedliche Art, je nach Gesundheit, Status und Geschlecht. Bemerkbar werden Unterschiede vor allem in Bereichen der Arbeit, wie sicher oder prekär wir beschäftigt sind und in welchen Lebensformen wir leben. In der Pandemie werden, wie durch ein Brennglas, bestehende Ungleichheiten vergrößert.

Porträtfoto der Soziologin Christine Wimbauer
Privat

Christine Wimbauer widmet sich in Ihrer Forschung vor allem den Themen der Geschlechterverhältnisse und sozialen Ungleichheiten. Sie erwarb ihre Habilitation von der Humboldt Universität zu Berlin, wo sie seit 2015 als Professorin für Soziologie tätig ist.

Wer ist von diesen Ungleichheiten am meisten betroffen?

Wimbauer: Prekäre Beschäftigungen waren schon vor der Pandemie eine Domäne von Frauen, Geringqualifizierten und Personen mit Migrationsgeschichte. Durch die Krise hat sich das verstärkt. Gerade Frauen sind doppelt betroffen, in der Erwerbssphäre und im privaten Bereich: Sie arbeiten besonders häufig im Einzelhandel, im Krankenhaus, in der Pflege – Tätigkeiten, die nicht sonderlich gut bezahlt werden, aber zeitlich, körperlich und psychisch sehr herausfordernd sind. Viele arbeiten dort bis zur Erschöpfung oder darüber hinaus. Letztes Jahr hat man dann endlich etwas breiter bemerkt, was die Geschlechterforschung schon seit Langem betont, nämlich wie wichtig diese "systemrelevante Tätigkeiten“ sind, ohne die das Fundament der Gesellschaft zusammenbrechen würde.

Zusätzlich zu prekären Arbeitsverhältnissen kommt die familiäre Situation: Überproportional mehr Frauen haben in der Pandemie ihre Arbeitszeit reduziert, damit sie dann unbezahlte Sorgearbeit für Kinder oder andere Angehörige leisten können. Sie üben somit noch mehr Haus- und Betreuungsarbeit aus, werden zu Alltagsorganisatorinnen und Totalmanagerinnen.

Krisen werden ja gerne auch als Chance gesehen – gibt es Ihrer Ansicht nach auch positive Entwicklungen, was prekäre Beschäftigungen betrifft?

Wimbauer: Die Pandemie wäre eine große Chance, anfänglich haben wirklich viele Menschen gemerkt: "Oh, es funktioniert nichts mehr ohne Lebensmittel, ohne Krankenhäuser, ohne Sorgeleistende etc.“ Und da kam man ein bisschen zu sich und es wurde gefordert, besser zu bezahlen, die Arbeitsbedingungen zu verändern, aber: Es ist eigentlich nicht viel davon übriggeblieben. Sobald die Zeiten wieder besser werden, ist es vergessen. Es kam bis jetzt zu keinen großen Erhöhungen des Lohnes, die Bedingungen in der Pflege wurden eigentlich noch schlechter, viele verlassen Pflegeberufe, weil sie es sich einfach nicht mehr leisten können.

Was würden Sie prekär beschäftigten Personen raten?

Wimbauer: Die Einzelnen könnten natürlich den Beruf wechseln, was aber nicht immer so leicht ist. Wenn man eine Ausbildung hat als Krankenpflegerin, kann man nicht einfach übermorgen etwas anderes machen. Man kann auch nicht so einfach streiken, Menschen in Gesundheitsberufen haben oft ein hohes Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Mitmenschen und streiken nicht wie in einer Fabrik, wo man die Produktion stilllegt. Es müsste also in erster Linie politisch und gesellschaftlich gehandelt werden.

Was sind Ihre konkreten Vorschläge?

Wimbauer: Wir bräuchten eine gesellschaftliche Wiederabsicherung von unsicher gewordenen Dimensionen, besonders von prekärer Erwerbsarbeit und von Sorgearbeit. Also: menschenwürdige und sichere Arbeitsbedingungen, genug Personalausstattung und eine existenzsichernde Entlohnung. Und wir bräuchten eine soziale Absicherung von Menschen, die nicht oder nicht mehr Erwerbsarbeit machen können, weil sie vielleicht krank sind oder weil sie Sorge für Angehörige leisten müssen – hier wäre die Überlegung für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Außerdem sollte man bestimmte einengende Geschlechternormen überdenken, wie etwa das Ernährermodell, das Frauen die unbezahlte Sorgearbeit zuschreibt und Männern die bezahlte Erwerbsarbeit. Insgesamt sollte Erwerbsarbeit solidarischer geleistet und auf alle Geschlechter verteilt werden. Sorge sollte gesellschaftlich besser anerkannt werden; die Sorge für andere, für sich selbst, für die Gesundheit und für das Gemeinwesen. Warum? Weil wir Menschen alle grundlegend verletzbar sind und aufeinander angewiesen und sorgebedürftig sind.

Wie wirken sich die prekären Lebensverhältnisse in der Pandemie auf zwischenmenschliche Beziehungen aus?

Wimbauer: In vielen Paarbeziehungen, die schon vor der Coronakrise eine ungleiche Arbeitsverteilung hatten, ist diese noch ungleicher geworden, oft gegen den Willen der Frauen. Im Lockdown haben sie sich zwischen Kinderbetreuung, Sorgearbeit und Erwerbstätigkeit zerrissen. Zusammen mit Sorgen um Zukunft und Gesundheit, beengten Wohnverhältnissen und finanziellen Problemen stieg das Konfliktpotenzial bei Paaren und Familien. Entsprechend gab es auch mehr häusliche Gewalt und Trennungen. Aber selbst wenn sie wollten, konnten sich nicht alle Paare trennen, denn Wohnungen waren nicht so einfach zu finden. Schließlich standen auch Freundschaften nicht wie in gewohnter Form als Unterstützung zur Seite. Singles konnten lange niemanden treffen. Paare hingen die ganze Zeit aufeinander, und Lebensformen jenseits der klassischen Paarkonstellation hatten es besonders schwer. Zum Beispiel Mehrelternfamilien oder Menschen, die freundschaftszentriert leben möchten, aber auch ältere Menschen, Studierende und junge Menschen – generell alle, die allein leben.

Sie haben in Ihrer vor Corona erschienenen Studie prekär beschäftigen Paare und prekär beschäftigte Singles verglichen – sind die einen zufriedener als die anderen?

Wimbauer: Die Gesellschaft ist sehr paarfixiert. Viele Singles fühlen sich schlecht, weil sie sich immer gewünscht haben in einer Paarbeziehung zu leben. Sie denken, ihr Leben wäre dann ganz anders, sie hätten keine Probleme mehr etc. Aber auch nicht jede Paarbeziehung ist der Himmel auf Erden. Viele Paare sind unzufrieden wegen der ungleichen Arbeitsteilung oder weil sie vom Partner nicht so anerkannt werden, wie sie sich das wünschen. Diese Probleme haben die Singles nicht, weil es da niemanden gibt, der sie nicht anerkennen oder missachten kann.

Ein Ergebnis unserer Studien ist, dass sowohl Singles als auch Paare Anerkennung stark durch Erwerbsarbeit suchen und dass es gar nicht so viele Alternativen gibt. Aber: Manche der Singles hatten so etwas wie eine „Nichtanerkennungsresistenz“, haben also versucht, doch den Sinn anderswo zu finden – etwa in Freundschaften, in einem Leben mit der Natur oder einer alternativen Lebensform. Das könnte man vielleicht versuchen zu lernen: Anerkennung in sich selbst zu finden und nicht nur in der Erwerbsarbeit oder in der Partnerschaft.