Junge Frau trägt einen Mund-Nasen-Schutz
Strelciuc – stock.adobe.com
Strelciuc – stock.adobe.com
Prognosen

Wie sich das Virus entwickeln könnte

Das Coronavirus mutiert weiter: In den kommenden Monaten ist laut Fachleuten mit neuen, noch infektiöseren Varianten zu rechnen. Es könnte aber auch sein, dass sich der Erreger in eine Zwickmühle manövriert – und schrittweise an Vermehrungskraft einbüßt.

Die Evolutionsgeschwindigkeit des Coronavirus wurde zu Beginn der Pandemie wohl von einigen Arbeitsgruppen unterschätzt, spätestens seit Mitte letzten Jahres ist sich die Wissenschaft einig: SARS-CoV-2 verändert sich etwa halb so schnell wie das Grippevirus, das macht in Summe ein bis zwei neue Mutationen pro Monat. Welche konkreten Mutationen das sind, lässt sich freilich nicht vorhersagen. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen werden zumindest einige Evolutionspfade sichtbar.

Da ist zum einen die Infektiosität: Die Alpha-Variante, die noch zu Beginn des Jahres dominiert hatte, ist rund 50 Prozent ansteckender als der Wildtyp aus Wuhan. Bei der derzeit vorherrschenden Delta-Variante kommen noch einmal 40 bis 60 Prozent hinzu. Das könnte einerseits an der erhöhten Viruslast liegen, zum Zweiten auch daran, dass Delta um ca. einen Tag länger im Körper zirkuliert, bis erste Symptome auftauchen. Dieser bisher nur per Preprint veröffentlichte Befund legt also nahe: Delta erweitert das Zeitfenster, in dem Infizierte unbemerkt Viren ausscheiden – und andere anstecken können.

Infektiosität: Masern als Maximum

Könnte das Virus seine Infektiosität weiter steigern? Das will in der Fachwelt niemand ausschließen, der Evolutionsbiologe Andrew Read von Pennsylvania State University hat das kürzlich gegenüber dem Fachblatt „Science“ kürzlich so ausgedrückt: „Wir sind viel besser darin, die Vergangenheit zu erklären als die Zukunft vorherzusagen. Was passieren wird, ist sehr schwer zu sagen, wir haben es hier nicht Physik zu tun.“

Abschätzen lässt sich zumindest, wie weit die Möglichkeiten reichen. Das bisher bekannte Optimum (aus Sicht des Erregers) markiert das Masernvirus mit einer Ansteckungsrate drei Mal so hoch wie Delta – diesem Wert könnte sich SARS-CoV-2 theoretisch annähern, sagt Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin in Wien. Ob das so sein wird, bleibe unklar. „SARS-CoV-2 muss nicht unbedingt dem Pfad des Masernvirus folgen.“

Dem Immunsystem entkommen?

Auffällig ist laut dem österreichischen Molekularbiologen jedenfalls, dass alle bisher verbreiteten Virustypen – Delta inklusive – entstanden sind, bevor die Impfkampagnen in aller Welt an Fahrt aufgenommen haben. Und zum Teil Monate im Schlummerzustand verbracht haben, bis sie sich weltweit durchsetzen konnten. So gesehen sei zu erwarten, dass das Virus auf die geänderten Umweltbedingungen reagieren werde. Das zeichnet sich laut jüngsten Studien schon ab: Das Virus entzieht sich zunehmend dem Zugriff des Immunsystems, die Wirksamkeit der Impfungen ist bei Delta herabgesetzt, gleichwohl bieten laut einer Untersuchung der Universität Oxford sowohl die RNA-Impfstoffe von Pfizer und Moderna als auch der Vektorimpfstoff von AstraZeneca noch immer ausreichend Schutz.

Auch auf diesem Pfad könnte das Virus vorankommen und weitere Tarnmechanismen entwickeln. Dass sich in nächster Zeit eine Virusvariante entwickeln wird, „die komplett unter dem Radar unseres Immunsystems fliegt“, hält Bergthaler jedoch für „unwahrscheinlich“. Und im Fall der Fälle hätte man mit einer dritten Teilimpfung die passende Antwort parat: Laut WHO laufen weltweit (Stand 24.8.) 296 Impfstoffprojekte, darunter auch solche, die an das veränderte Erbgut des Coronavirus angepasst werden könnten. Impfungen und andere Schutzmaßnahmen sind, da sind sich alle Fachleute einig, auch aus einem anderen Grund wichtig. Je schwerer es SARS-CoV-2 hat, sich in der Bevölkerung auszubreiten, desto weniger Möglichkeiten hat es, neue Mutationen anzusammeln.

„Trade-off“: Anpassung hat ihren Preis

Eine Arbeitsgruppe der Rockefeller University hat kürzlich das „worst case scenario“ im Labor simuliert. Die Forscher und Forscherinnen um den Virologen Paul Bieniasz fügten alle bisher bekannten Fluchtmutationen (mit denen SARS-CoV-2 der Immunantwort ausweicht) ins Erbgut eines Modellvirus ein – und stellten fest: In diesem Fall verloren die neutralisierenden Antikörper zwar fast völlig ihre Wirkung. Aber das Plasma von Geimpften konnte die Erreger immer noch neutralisieren. Das Immunsystem hat also selbst für Supermutanten noch ein paar Trümpfe in der Hand, die Flucht vor dem Immunsystem ist prinzipiell möglich, ganz einfach wird es für das Virus allerdings nicht.

Hinzu kommt, dass sich das Virus durch seine laufenden Anpassungen selbst in eine Zwickmühle manövrieren könnte. Laut Andrew Read gab es etwa im Jahr 2000 einige Aufregung um eine neue Variante des Hepatitis-B-Erregers, der offenbar Wege gefunden hatte, den Impfschutz zu unterlaufen. Eine Anpassung der Impfung war glücklicherweise nicht nötig, da es niemals zu einer globalen Verbreitung kam. Wie sich herausstellte, war die Fluchtvariante von Hepatitis B weniger vermehrungsfähig als ihre Vorläufer – Read hält es für möglich, dass sich auch das Coronavirus irgendwann entscheiden muss, entweder das eine oder das andere zu optimieren.

Hier könnte freilich auch der Wunsch Vater des Gedankens sein. Andreas Bergthaler hält solche Überlegungen für grundsätzlich plausibel. „Diese Theorie wurde auch vom Nobelpreisträger Peter Doherty prominent platziert. Aber wie gesagt: Es ist eine Theorie. Wir müssen abwarten, was in der Natur wirklich passiert.“

Schnupfenviren: Einst tödlich, jetzt harmlos?

Instruktiv ist in diesem Zusammenhang der Blick auf eine vergangene Pandemie, nämlich die Russische Grippe der Jahre 1889 bis 1895. Laut einer Untersuchung des belgischen Immunologen Marc van Ranst könnte die weltweite Erkrankungswelle, die damals rund eine Millionen Tote gefordert hat, gar nicht von einem Grippevirus verursacht worden sein, sondern vom Coronavirus HCoV-OC43. Von einem Erreger also, der heute zu den harmlosen Erkältungsviren zählt.

Wie kam es zu dieser Verwandlung? Sollte van Ransts Ergebnis zutreffen, hat der Erreger der Russischen Grippe einen Pfad eingeschlagen, auf dem er zwar die eigene Vermehrung sicherstellen konnte, aber letztlich für den Menschen immer ungefährlicher wurde. Das wäre ein Weg, der auch dem aktuellen Coronavirus offen stünde. Für den kommenden Herbst und Winter ist das gleichwohl ein schwacher Trost: HCoV-OC43 brauchte dafür Jahrzehnte.