Afghanen auf der Flucht
APA/AFP/Olivier DOULIERY
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Aufruf

Wie man Afghanistans Akademiker unterstützen könnte

Universitätsangehörigen, Forscherinnen und Akademikern steht in Afghanistan eine sehr ungewisse Zukunft bevor. Wie sehr sie von den Taliban verfolgt werden, ist noch unklar. Die Wissenschaftszeitschrift „Nature“ machte nun in einem Leitartikel Vorschläge, wie man die Forscher unterstützen könnte – und nimmt dabei auch Anleihen aus Österreich.

“Die Situation in Afghanistan ist beängstigend. Wir brauchen sofort Unterstützung", lautet eine der Botschaften, die die renommierte britische Wissenschaftszeitschrift „Nature“ in den vergangenen von Forscherinnen und Forschern aus Afghanistan erhalten hat. Nach dem US-Abzug seien sie zu einer der am stärksten gefährdeten Gruppen geworden, schreibt „Nature“ in einem Leitartikel, denn die USA war der wichtigste Kooperationspartner in der Wissenschaft. Viele Einrichtungen hätten mit dem Siegeszug der Taliban geschlossen, viele Mitarbeiter und Studierenden würden sich nun verstecken.

Zwar haben die neuen Machthaber eine Amnestie versprochen und die Bevölkerung aufgefordert, im Land zu bleiben und ihrer Arbeit weiter nachzugehen. Viele Forscherinnen und Forscher wollen aber kein Risiko eingehen, so „Nature“. Die Erinnerung an die systematischen Menschenrechtsverletzungen im ersten „Islamische Emirat Afghanistan“ von 1996 bis 2001 sei noch wach.

Nach Taliban boomte die Bildung

Nach dem Sturz des Talibanregime vor 20 Jahren boomte der Bildungsbereich. Laut UNESCO stieg die Alphabetisierungsrate zwischen 2002 und 2020 von 34 auf 43 Prozent an. Ab 2006 alphabetisierte das in der Geschichte des Landes größte UNESCO-Programm über 1,2 Millionen Menschen, zwei Drittel von ihnen Mädchen und Frauen. Es wurden neue Universitäten gegründet, die Zahl der Studierenden stieg in den vergangenen 20 Jahren von 8.000 auf 170.000 an – ein Viertel von ihnen Frauen.

Auch Afghanistans Akademie der Wissenschaften ist laut „Nature“ gewachsen und beschäftigt nunmehr über 300 Personen, in einem Forschungsprojekt versucht sie Wörterbücher für alle der rund 40 Sprachen des Landes zu schaffen. Forschungskooperationen wurden eingegangen, etwa im Bereich der Theoretischen Physik zwischen den Universitäten Kabul und Triest.

Taliban
AFP – WAKIL KOHSAR

“Legale Möglichkeiten, um nach Europa zu kommen“

Seit der kompletten Machtübernahme der Taliban haben mehrere Organisationen Universitäten weltweit dazu aufgerufen, Universitätsangehörige und Studierende aus Afghanistan zu unterstützen. „In den vergangenen 20 Jahren haben sie mit anderen Vertretern der Zivilgesellschaft für ein neues, Rechte respektierendes und wissensbasiertes Afghanistan gekämpft. Viele von ihnen haben in Europa studiert und sind mit den Werten von Offenheit und Toleranz in ihre Heimat zurückgekehrt. Das sind nicht die Werte der Taliban, deshalb ist ihr Leben nun in Gefahr“, schreibt etwa die Organisation „Scholars at Risk“ und appelliert: „Wir bitten sie deshalb inständig, sich für afghanische Forscherinnen und Forscher einzusetzen.“ Konkret fordert die Organisation weitere Evakuierungsflüge, legale Möglichkeiten, um nach Europa zu kommen, sowie EU-weite und nationale Fellowships für gefährdete Universitätsangehörige aus Afghanistan.

Vorbild Jordanien und Österreich

Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass in einem Land mit 38 Millionen Einwohnern eine große Anzahl von ihnen bleibt – und auch sie brauchen die Unterstützung der Community, wie das „Nature“-Editorial betont. Eine Möglichkeit wäre es, ihnen Forschungsmöglichkeiten in neutralen, also nicht direkt am Konflikt beteiligten Ländern zu organisieren – etwa am Teilchenbeschleuniger SESAME in Jordanien, wo heute schon Israelis und Iraner gemeinsam forschen, aber auch Zyprioten und Türken.

„Nature“ verweist auch auf ein Vorbild aus dem Kalten Krieg, das nach wie vor in Österreich existiert. 1972 wurde das Internationale Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) mit Unterstützung von der Sowjetunion und den USA gegründet und danach in Laxenburg bei Wien errichtet. Forscherinnen und Forscher aus Ost und West trafen und treffen sich dort in einem neutralen Land. Als Gegenbeispiel zieht „Nature“ den Iran nach der Islamischen Revolution 1979 heran. Das Regime wurde immer repressiver, international vernetzte Akademikerinnen und Akademiker verfolgt und als Sicherheitsgefahr eingestuft. Darauf folgt ein enormer „Brain Drain“, ein Verlust an Wissen und Kompetenz. Laut einer Studie der Stanford University verließen rund drei Millionen Iranerinnen und Iraner in den vergangenen 40 Jahren ihre Heimat, etwa vier Prozent der Gesamtbevölkerung – kein Vorbild für Afghanistan.

Nicht vergessen

Um die Akademiker dort heute zu unterstützen, sollten deshalb zumindest minimale Kommunikationskanäle mit den neuen Machthabern offengehalten werden, schlägt „Nature“ vor. Ob sich die Taliban an ihr Versprechen halten, Menschen, die von EU- oder US-Institutionen finanziert werden, diesmal nicht zu verfolgen, bleibt abzuwarten.

„Gefährdete Forscherinnen und Forscher müssen Afghanistan verlassen und in andere Länder gelangen können, in denen ihre Sicherheit garantiert wird“, schreibt „Nature“. „Zugleich müssen führende Forscher weltweit, aber besonders in den Nachbarländern, jene Afghanen unterstützen, die in ihrem Land bleiben – und nicht vergessen oder vernachlässigt werden dürfen.“