Die ursprüngliche Pergament-Seite ist in drei Teilen fragmentarisch erhalten. Giulia Rossetto hat sie mit einer Bildbearbeitungssoftware zu einem einzigen Bild rekonstruiert.
Katharinenkloster, Sinai, Ägypten
Katharinenkloster, Sinai, Ägypten
Literatur

Bisher unbekannter Text aus der Antike entdeckt

Eine Forscherin aus Österreich hat in Ägypten einen bisher unbekannten Text aus der Zeit Homers entdeckt. Er schildert die Kindheit des Gottes Dionysos und ist Teil eines verschwundenen Epos. Der Text wurde Jahrhunderte später überschrieben und nun wieder zum Vorschein gebracht.

Der Fund ist ein Palimpsest – eine Art Urform des Recyclings. Dabei handelt es sich meist um Pergament und Papyrus aus Antike und Mittelalter, die mit Tinte beschrieben wurden. Jahrzehnte oder Jahrhunderte später schabten oder wuschen neue Benutzer die Schrift ab und beschrieben das Dokument neu, weil es im Mittelalter einen Mangel an Papier gab.

Einen solchen Text brachte die Byzanzforscherin Giulia Rossetto von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wieder zum Vorschein. 2017 arbeitete sie im Rahmen ihres Doktorats am Sinai Palimpsests Project mit und untersuchte dabei viele Palimpseste, die im Katharinenkloster – einem heute griechisch-orthodoxe Kloster im Sinai – in einem Archiv lagern, auf ihre verborgenen Schriften. Darunter waren zwei Pergamentfragmente, auf denen die bereits ausradierten griechischen Schriftzeichen auf einen wichtigen Fund für Altertumsforscher hindeuten.

Antikes Epos über griechische Götterwelt

Es geht in dem Text um Dionysos, den antiken Gott des Weines. Genauer gesagt, um Geschichten aus seiner Kindheit. Rossetto übersetzte die 89 Versteile ins Deutsche. Darin heißt es unter anderem:

„Den Giganten gelang es nicht, Dionysos, den Sohn des Zeus und der Persephone, davon zu überzeugen, sich vom Königsthron zu erheben: weder mit irgendwelchen Gaben, die die weite Erde nährt, noch mit tückischen Täuschungen und drängenden Reden. Sogleich schmückten sie den Kopf des Sohnes des laut donnernden Zeus mit Kränzen aus lieblichen Blumen und schritten im Kreis einher, in der Absicht, ihn mit Ermahnungen und verführerischen Worten zu überzeugen, mit all den kindlichen Spielsachen und mit angenehmen Geschenken.“

Der ursprünglich griechische Text (rot) wurde ausradiert und im 10. Jhdt. mit einem arabischen Text (schwarz) überschrieben
Katharinenkloster, Sinai, Ägypten
Der ursprünglich griechische Text (rot) wurde ausradiert und im 10. Jhdt. mit einem arabischen Text (schwarz) überschrieben

Der Text ist eine Abschrift einer epischen Dichtung aus dem 7. oder 8.  Jahrhundert vor Christus. Eine unbekannte Person kopierte ihn handschriftlich im 5. oder 6. Jahrhundert nach Christus im ägyptischen Alexandria, das verrät zum einen die Handschrift, aber auch die Art der Schrift – es handelt sich um die Alexandrinische Majuskel. Viele Texte mit dieser Schrift stammen laut Rossetto aus Alexandria.

Heidnische Antike neben Christentum

Aufsehenerregend ist der Fund, weil im 5. Jahrhundert bereits das Christentum vorherrschende Religion in Alexandria war. „Es ist interessant, dass noch im 5. und 6. Jahrhundert, als das Christentum schon verbreitet war, Interesse für diese Art von Texten da war“, so Rossetto gegenüber science.ORF.at. Ein Zeugnis also für eine längere Phase des Nebeneinanders von antiken Göttern und dem Christentum.

Schon 2017 begann Rossetto mit Analysen, erst vor Kurzem konnte sie die Ergebnisse in der Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik publizieren. Sie nutzte Multispektralfotografie und computergestützte Bildanalyse, um den Text zu entziffern. Geholfen haben auch Löcher, die durch das Auskratzen der Eisenkalktinte entstanden sind, erklärt sie: „Die Tinte war so aggressiv, das hat Löcher im Pergament verursacht. Wir haben Licht von hinten leuchten lassen und konnten dann durch die Löcher Buchstaben rekonstruieren.“

Katharinenkloster im Sinai (Ägypten). Im Vordergund: Forscherin Giulia Rossetto von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Privat
Giulia Rossetto vor dem Katharinenkloster im Sinai

Erster Originalteil eines 24-bändigen Epos

Die Geschichte aus Dionysos Kindheit entstammt wahrscheinlich einem Epos, das 24 Bände umfasste. Bisher kannte man Teile des Gesamttextes, weil man immer wieder Zitate gefunden hatte, die auf den Originaltext verweisen. Die nun gefundenen zwei Fragmente sind die einzigen bisher gefundenen Abschriften des Originals. „Im griechischen Bereich ist dies im Rahmen dieses Projekts tatsächlich der Sensationsfund“, erklärt Claudia Rapp, Professorin an der Universität Wien und stellvertretende Direktorin der Abteilung Byzanzforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, außerdem wissenschaftliche Leiterin des Sinai Palimpsests Project. Das Projekt macht Handschriften wieder lesbar, die im Katharinenkloster im Sinai lagern, und möchte die Dokumente auch digitalisiert zugänglich machen.

Überschrieben wurde die antike Dichtung über Dionysos dann im frühen 10. Jahrhundert, und zwar in arabischer Schrift. Christliche Mönche eines Klosters in der Nähe von Jerusalem beschrieben das Pergament nun mit einem Text über das Leben christlicher Heiliger.