Moosbewachsene grüne Wurzeln eines Baums
APA/dpa
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Lore Kutschera

Die NS-Wurzeln der Wurzelforscherin

Die Kärntner Botanikerin Lore Kutschera gilt als Pionierin der Wurzelforschung. Ihre Wurzelatlasreihe wird als „Jahrhundertwerk der Wurzelforschung“ bezeichnet. Über ihr Leben war bisher wenig bekannt. Nun deckte eine neue Studie die NS-Wurzeln der Wurzelforscherin auf. Kutschera war seit ihrer Schulzeit eine „glühende Nationalsozialistin“.

Da staunten die Spaziergänger in der Lobau im Jahr 2004: Eine Frau saß auf der Wiese und vor ihr schaufelten zwei Männer rund um einen Baum. Dann begannen sie wie Archäologen mit feinen Werkzeugen und ganz vorsichtig die Wurzeln des Baumes freizulegen. Ein Mann fotografierte das Wurzelwerk und zeichnete die Wurzeln mit feinem Bleistift ab. Die Beobachterin war die Wissenschaftlerin Lore Kutschera und der Zeichner Erwin Lichtenegger. Für die beiden gab es nichts Faszinierenderes als das Wurzelwerk der Pflanzen.

Straßennamen in Klagenfurt und Wien

Zu Beginn lag es noch völlig im Dunkeln, wie es unter der Erde aussieht. Um sich einen Überblick über die unterschiedlichsten Wurzelsysteme zu verschaffen, beschlossen sie einen Wurzelatlas zu erstellen – aus dem Vorhaben wurden sieben Bände, das „Jahrhundertwerk der Wurzelforschung“ – wie es oft heißt. Es reicht von den Wurzeln der Grünlandpflanzen, über Waldbäume und Sträucher bis hin zu Feldgemüse und ist ein internationales Standardwerk.

Deshalb wurden Straßennamen in Klagenfurt und zuletzt vor drei Jahren in Wien nach der 2008 gestorbenen Lore Kutschera benannt. Auch, um den Anteil von Frauen bei Straßennamen zu erhöhen und an in Vergessenheit geratene Forscherinnen zu erinnern.

Aus deutschnationalem Elternhaus

Kutschera wurde als Eleonore Anna Belani am 14. September 1917 in Villach geboren. Sie wuchs in deutschnational geprägten Familienverhältnissen auf, beide Elternteile stammten aus Böhmen, ihr Vater war Hochbauingenieur. 1929 besuchte sie die erste reine Mädchenklasse in Villach, die von der Turnlehrerin und Germanistin Katharina Cebul / Käthe Tschebull im Peraugymnasium, geleitet wurde. Sie sah „Turnen als völkische Aufgabe im Dienst des deutschen Volkskörpers, wobei sie den Turnunterricht nicht nur in praktischer, sondern im NS-Lehrerbund auch in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht über viele Jahre hinweg politisch prägte“, schreibt Lisa Rettl in einem Artikel, der vor Kurzem in der Fachzeitschrift erschienen ist (Abstract).

Höchst engagiertes NSDAP-Mitglied

Die Zeithistorikerin nimmt erstmals die Jugend- und Studentenzeit der Botanikerin unter die Lupe. Sie stützt sich auf Akten aus dem Bundesarchiv Berlin und vor allem auf Aufzeichnungen Belanis aus dem Jahr 1942, in denen sie kein Hehl aus ihrer Begeisterung für die nationalsozialistische Idee macht. „Seit 1932 arbeitete ich für die Bewegung und trat im März 1933 offiziell dem BDM bei. Ich baute mit einer Kameradin den jetzigen Untergau Villach und führte am Gymnasium die Auswahlmannschaft in Turnen, die der Kern für unsere BDM Arbeit wurde.“ Lore Belani schickte diesen Lebenslauf im März 1942 an das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS in Berlin. Sie musste sich in ein gutes Licht stellen, denn sie wollte heiraten und musste um Genehmigung ansuchen. Daraus erschließt sich nun ihre gesamte Biografie.

Die Wurzelforscherin Lore Kutschera sitzt im Mai 2007 auf einer Wurzel
Lore Kutschera 2007

Nach der Reifeprüfung im Jahr 1935 begann sie an der Hochschule für Bodenkultur (BOKU) mit dem Studium der Landwirtschaft. Rund 80 Prozent der Studierenden sympathisierten mit der NSDAP, erinnert Rettl an die damalige Stimmung an der BOKU. Sie weist nach, dass Lore Belani zu den „glühenden Nationalsozialistinnen“ gehörte. 1939 schloss Belani ihr Studium mit dem Titel „Diplomingenieur“ ab. Sie war eine Musterstudentin, die alle Staatsprüfungen mit „sehr gut befähigt“ abschloss. Doch nicht nur das, wie ihr handschriftlicher Lebenslauf preisgibt: „Dort [an der BOKU, Anm. d. Verf.] übernahm ich im 2. Jahr die ANSt und arbeitete gleichzeitig im Wiener BDM.“ Die ANSt war die „Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen“, diese illegale politische Arbeit gipfelte vor allem in Liederabenden, Ausflügen und Sommerlagern – weltanschauliche Schulung inklusive. Das NSDAP-Mitglied war höchst engagiert.

Gleichgesinnter Ehemann

1942 wurde ihr die Genehmigung erteilt, den SS-Mann Fritz Wilhelm Kutschera zu ehelichen. Kutschera, 1916 in Innsbruck geboren, war ein Gleichgesinnter. Der Student der Forstwirtschaft war in verschiedenen Organisationen der NSDAP tätig. Nach Studienabschluss rückte er als Freiwilliger ein. Die bisherige Geschichtsschreibung ging davon aus, dass Kutschera 1945 in Italien vermisst wurde. Der 20. April 1945 wurde auf Antrag seiner Mutter als das Sterbedatum bestimmt. Die Zeithistorikerin Lisa Rettl sieht im symbolträchtigen Vermisstendatum allerdings ein deutliches Indiz: Der 20. April 1945, Hitlers Geburtstag, sei ein Hinweis auf einen Suizid angesichts des „Zusammenbruchs“ und ein Signal an die „Ehemaligen“.

Am Institut bei SS-ler Aichinger …

Ab Oktober 1939 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am „Institut für Angewandte Pflanzensoziologie“ in Villach, nach eigenen Angaben „vor allem in der Frage der Erhaltung unseres Bergbauerntums.“ Ein Forschungsschwerpunkt, der für die Nationalsozialisten von großer Wichtigkeit war, denn die Almen sollten die Ernährung sichern.

Ihr Chef war Erwin Aichinger, der sie offenbar nicht nur wegen ihres hervorragenden Studienerfolgs, sondern wegen ihres „Einsatzes in der Kampfzeit“ genommen hat. Aichinger, SS-Obersturmbannführer, war ein bestens vernetzter Nazi mit persönlichen Kontakten zu Heinrich Himmler. Wie auch schon zuvor in dem Buch von Alfred Este „Kärntens braune Elite“ aus dem Jahr 1996 nachzulesen ist.

…, dem Kutschera nach dem Krieg weichen musste

Sobald Reichsdeutsche ans Institut kamen, um sich um die kriegswichtige Ernährungsfrage zu kümmern, hatte Kutschera das Nachsehen. Im Juli 1944 verließ sie das Institut, kehrte aber im November 1945 zurück, als Aichinger ins Entnazifizierungslager Wolfsberg überstellt wurde. Sie übernahm interimistisch die Institutsleitung. Warum wurde er entnazifiziert, sie aber nicht? Das bleibt bei Rettl eine offene Frage. Tatsache ist, dass Kutschera – wie ein Dokument vom Kärntner Landesarchiv belegt – als „minderbelastet“ eingestuft wurde.

Lore Kutschera im Grünen
Haubenberger privat

Als Aichinger zurückkehrte, kam es naturgemäß zum Streit, er hatte Angst, dass sie sein Institut übernimmt. Kutschera verlor die Auseinandersetzung. Ihr bisher bekannter Lebenslauf führte an, dass sie danach als Lehrerin tätig war, doch das bezweifelt die Zeithistorikerin Rettl. Im Landesmuseum Kärnten liegt eine Dienstbestätigung auf, die belegt, dass Kutschera von 1945 bis 1953 Vertragsbedienstete des Landes Kärnten war. Ob sie Lehrerin war, geht daraus nicht hervor.

Schrieb ab 50er Jahren Wissenschaftsgeschichte

Erst 1953 begann die Phase in ihrem Leben, in der sie Wissenschaftsgeschichte schrieb. Sie reiste in die USA, zum Wurzelforscher John Ernest Weaver. Er hatte schon 1926 ein Buch über die Wurzeln von Feldfrüchten geschrieben. Weaver war der erste, der sich überlegt hatte, wie man den unterirdischen Teil der Pflanze freilegen kann, ohne sie zu zerstören. Er hat auch das allererste Ökologielehrbuch in Amerika geschrieben. Das sind Ideen, die Kutschera begeisterten und die sie weiterverfolgte.

Sie gründete in Klagenfurt ein eigenes privates pflanzensoziologisches Institut. Erst 1961 fand sie wieder eine staatliche Anstellung an der „Bundesversuchsanstalt für alpenländische Landwirtschaft“ in Gumpenstein in der Steiermark. 1962 reichte sie ihre Dissertation ein und 1969 folgte die Habilitation. Sie war damit erst die vierte Frau, die sich an der BOKU habilitiert hatte. „Dieser Umstand gehört in akademischer Sicht wahrscheinlich zu den bedeutsamsten und gleichzeitig am wenigsten beachteten Pionierleistungen, die mit Kutscheras Arbeit verbunden sind“, resümiert Rettl. Seit 1978 war Kutschera „Außerordentliche Universitätsprofessorin“.

Offene Fragen für die Zeitgeschichte

Nun ist eine biografische Lücke nicht geschlossen, aber neu eröffnet. Eine systematische Untersuchung über die Rolle des Pflanzensoziologischen Instituts im Nationalsozialismus steht auch noch aus. Rettl sieht im Villacher Institut Aichingers ein Sammelbecken von „Ehemaligen“. Offen ist auch die Frage: Wie haben sich die ideologischen Wurzeln auf die Wurzelforschung ausgewirkt? Das sind Fragen, die ihrer Meinung nach nicht die Zeithistoriker, sondern Naturwissenschaftler zu klären hätten. Naturwissenschaftler Roland Eberwein vom Kärntner Botanikzentrum winkt gegenüber science.ORF.at ab. „Naturwissenschaftler befassen sich mit naturwissenschaftlichen Themen und nicht mit ideologischen Wurzeln“, meint er.

Roland Eberwein kannte nicht nur Lore Kutschera persönlich, sondern auch ihre Vergangenheit. „Wir wissen alle, dass sie eine entsprechende Vergangenheit hatte“, sagt er. „Aus naturwissenschaftlicher Hinsicht ist und bleibt sie aber eine Pionierin für die Wurzelforschung, das ist unbestritten. Die Wurzelatlanten werden weltweit weiterhin für wissenschaftliche Arbeiten verwendet.“

Viele Fragen stellen sich laut Eberwein noch zum Komplex Aichinger. Beginnend mit den Umständen um seine Habilitation, über seine Rolle als Empfänger von Naziraubgut bis hin zu seiner Position in der Kärntner NS-Führungsschicht. Interessant auch, dass Kutschera einige Publikationen als Kutschera-Mitter veröffentlichte, warum ist noch ein Rätsel.

“Kein Role-Model der Naturwissenschaft“

Und noch eine Sache bleibt ungeklärt. Die Botanikerin Monika Sobotik arbeitete ab 1967 am Wurzelatlas mit und führt noch heute das Erbe Kutscheras am Pflanzensoziologischen Institut in Bad Goisern weiter. Sie kommt in der Studie von Rettl gar nicht vor. Womit wieder eine Forscherin unsichtbar bleibt. In diesem Fall eine Frau hinter einer Frau, das dürfte wohl neu sein.

Mit einigen Spekulationen liege die Zeithistorikerin aber falsch, meint der Naturwissenschaftler Eberwein. Vor allem mit der, dass Erwin Lichtenegger und Lore Kutschera Lebensgefährten gewesen seien. „Da wird sich Frau Lichtenegger wohl wundern“, so Eberwein.

Doch was soll nun mit den Lore-Kutschera-Straßen geschehen? Ist das ein Fall, wo vor lauter Wunsch nach Gendergerechtigkeit der Blick in die Vergangenheit gescheut wurde, fragt sich Lisa Rettl und zieht folgendes Fazit: „Als weibliches Role-Model der Naturwissenschaft, nach der weitere Straßen in Österreich benannt werden sollten, taugt Lore Kutschera angesichts ihrer NS-Vergangenheit aus demokratiehygienischen Gründen wohl kaum.“