Schüler mit Maske am ersten Tag im Schuljahr
AP – Andreea Alexandru
AP – Andreea Alexandru
Schulen

Die Krise als Chance

Sozial benachteiligte Schüler und Schülerinnen sind durch die Coronavirus-Lockdowns weiter abgehängt worden. Distance Learning kann aber auch positive Seiten haben, wie zwei Beispiele aus Israel und Österreich zeigen: Lehrende erwiesen sich in der Krise als sehr innovativ, Schüler und Schülerinnen wurden selbstbestimmter und widerstandsfähiger.

Die Hektik war groß in den Tagen vor dem 17. März 2020, als Österreichs Schulen wegen der rasenden Ausbreitung des Coronavirus ihre Tore schlossen. Regina Pock, Leiterin einer Grazer Innenstadt-Volksschule, musste einen kühlen Kopf bewahren: offizielle Informationen von Gerüchten trennen, besorgte Eltern beruhigen. “Meine oberste Priorität war die Gesundheit", schildert sie jene aufgewühlten Tage, “die der Lehrkräfte und die der Kinder." Masken und Desinfektionsmittel wurden besorgt, ältere Lehrkräfte nach Hause geschickt, schulfremden Personen der Zutritt untersagt.

Lernen auf Distanz

Fast über Nacht wurden Begriffe wie “Homeschooling", “Distance Learning", “digitales Lernen" selbstverständlicher Teil des recht aufgeregten öffentlichen Diskurses. Und im Konferenzzimmer begann das große Kopieren. Regina Pock war klar, dass sie handeln musste. Der IT-Schuladministrator schlug vor, die Schule mit PCs aufzurüsten und den Umstieg auf digitalen Unterricht technisch zu ermöglichen.

“Da wir viele internationale Schüler haben, hatten wir einen Vorsprung. Wir haben immer schon auf digitale Vernetzung gesetzt", erzählt Pock. Allerdings eher auf administrativer Ebene – die Lehrkräfte arbeiteten in der Praxis großteils analog, vor allem die älteren. Ihnen sollten Tools zur Verfügung gestellt werden, die sie dabei unterstützen, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden. “Die Solidarität war enorm", erinnert sich die Schulleiterin, “und die Lehrkräfte sehr selbsttätig." Schon bald nutzten alle die App “Padlet"- eine Art digitaler Pinnwand, auf der Bilder, Texte, Audio- und Videofiles kooperativ genutzt werden können.

Regina Pock auf dem Schulhof
Valentina Pock
Regina Pock auf dem Schulhof

Lost Generation?

Das isolierte Lernen in den eigenen vier Wänden hat kein gutes Image. Zahlreiche Untersuchungen der vergangenen eineinhalb Jahre zeigten, dass Kinder aus prekären Verhältnissen den Anschluss verloren haben, Lerndefizite aufweisen und für Lehrende teilweise nicht mehr erreichbar sind. Immer wieder taucht der Begriff “Lost Generation" auf – eine ganze Generation Verlorener wird befürchtet, jahrzehntelange Folgewirkungen des Unterrichts auf Distanz seien nicht mehr abwendbar. Während diese Warnrufe aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ernstzunehmen sind, gibt es dennoch auch eine andere Seite.

Nämlich jene der Innovation und Erneuerungskraft, die die Pandemie zutage gefördert hat. Studien in Israel haben gezeigt, dass die Ausnahmesituation im März 2020 eine ermächtigende Wirkung auf Lehrende an den Schulen hatte. Der ausschlaggebende Faktor: Autonomie. Miri Yemini, Soziologin an der Universität Tel Aviv, analysiert in ihren Forschungen seit Jahren die Bedingungen, unter denen Lehrende und Schulleiter Eigeninitiative und kreative Zugänge entwickeln können – auch “entrepreneurial spirit" genannt.

Autonomie und Unterstützung

Paradoxerweise bot die chaotische Situation im Frühjahr 2020 den perfekten Nährboden dafür. “In der ersten Hälfte der Krise waren die Schulen völlig auf sich allein gestellt, die Regel der Regierung waren sehr verwirrend. Die Lehrer und Lehrerinnen mussten ihre eigenen kreativen Wege finden, mit der Situation umzugehen“, so die Wissenschaftlerin über ihre Beobachtungen.

Porträtfoto der Soziologin Miri Yemini
Hila Photography
Miri Yemini

Yemini hatte bereits für eine Studie 2015 Lehrende sowie Schuldirektoren und -direktorinnen identifiziert, die von Schülern, Eltern und Community als besonders engagiert betrachtet wurden. In qualitativen Interviews wurde erhoben, was diese brauchten, um ihre Visionen umsetzen können. Das überraschende Fazit: nicht etwa mehr Geld und Ressourcen, sondern vor allem Autonomie und institutionelle Rückendeckung.

Krise als Chance

Yemini und ihr Team nutzten nun die Coronavirus-Krise, um weitere Daten einzuholen. Einige Lehrende wuchsen über sich hinaus: So entwickelte ein Volksschullehrer eine virtuelle Tour, mit der er seine Schülerinnen und Schüler per Mausklick an jene Orte brachte, die sie aufgrund des Lockdowns nicht besuchen konnten– wie Märkte, Parks oder Sportplätze. Ein anderer Pädagoge, Lehrender in einem ärmeren Stadtviertel Tel Avivs, organisierte Gruppentreffen zwischen älteren und jüngeren Schülern. So konnten Computer und Wifi geteilt werden – Ressourcen, auf die viele seiner Schüler nicht so einfach Zugriff hatten.

Eine besonders kreative Auslegung von “distance learning" dachte sich der Lehrer einer anthroposophischen Schule aus, die aufgrund ihrer Philosophie keine Technologien erlaubt: Er erschuf für seine Schülerinnen und Schüler ein Labyrinth. Jeder Hinweis beinhaltete Informationen, und so konnten die Schüler etwas lernen, während sie sich im Freien durch das Labyrinth bewegten. Die relativ ungenauen Vorgaben vonseiten der Regierung gaben den Lehrenden einen breiten Spielraum und Autonomie, was ihnen erlaubte, Visionen und Ideen umzusetzen.

Transformation der Bildung

Derartige Projekte wären in Österreich nicht möglich gewesen, da während des Lockdowns Ausgangssperren in Kraft waren. Dennoch erlebte auch die Schulleiterin Regina Pock die Pandemie als Motor für eine Transformation im Bildungsbereich. Vor allem ältere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wurden quasi ins digitale Zeitalter katapultiert, was viele aber neu inspirierte und motivierte. “Das Fazit ist ganz klar positiv", resümiert die Schulleiterin.

Eine großangelegte Befragung für das Deutsche Schulbarometer gibt ihr recht: Dort gab mehr als die Hälfte der befragten Lehrkräfte an, ihre Schülerinnen und Schüler jetzt stärker zu mehr Verantwortung für den eigenen Lernprozess zu befähigen. Mehr als zwei Drittel gaben an, durch die Pandemie neue Methoden und Ansätze im Unterricht erprobt zu haben, die sie auch in Zukunft anwenden wollen. Und 44 Prozent der Befragten glauben, dass die Krise langfristig zu positiven Veränderungen an ihrer Schule führen wird.

Auch Miri Yemini bestätigt: “Für Lehrer und Lehrerinnen, die schon eher passiv waren, war die Krise eine Chance.“ Lehrende konnten sich neue Fähigkeiten aneignen, nicht nur im digitalen Bereich. Auch die Fähigkeiten im Krisenmanagement seien enorm gefestigt worden. In einem Land wie Israel, das den Bedrohungen eines bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist, seien das wichtige Skills.

Schüler in einer Klasse, die Lehrerin vorne an der Tafel trägt eine Maske
AP – Andrew Medichini

Resilienz und Eigenverantwortung

Ein differenziertes Fazit muss auch für die Schülerinnen und Schüler gezogen werden. Belegt ist: Die Schere zwischen Kindern aus privilegierten Haushalten und jenen aus sozial schwächeren Familien wurde durch die Pandemie noch verstärkt. Dennoch kann nicht der Schluss gezogen werden, dass dadurch eine ganze Generation verloren gegangen ist. “Es gab auch für die Schülerinnen und Schüler Chancen. Sie wurden resilienter, verantwortungsvoller und selbstverwalteter“, beschreibt Miri Yemini ihre Forschungsergebnisse.

Auch Regina Pock hat an ihrer Schule beobachtet, dass das Bewusstsein der Kinder in anderen Bereichen als vor Corona gereift war: im Bezug auf Hygiene, im Rücksichtnehmen auf andere, im Wissen darüber, wie Krankheiten und Keime übertragen werden. Und natürlich im Bereich der Digitalisierung. Alles in allem überwiege der Benefit, so Pock.

Die Frage sei nun, welche Lehren für das kommende Schuljahr gezogen werden, sagt Miri Yemini. Schwachstellen müssten identifiziert, Schülerinnen und Schüler, die nicht erreicht werden können, aufgefangen werden. Hier sei vor allem die Politik gefragt: Regierungen sollten den Lehrkräften und Schulleitern soviel Autonomie zugestehen, dass sie kreativ agieren und gestalten können, aber dennoch Ansprechpartner bleiben und aktiv Unterstützung bereitstellen.