Fotografie Antoine Köpe,
Lydia Tsenda
Lydia Tsenda
Lebensgeschichten

Das Schicksal des Antoine Köpe

Lebensgeschichtliche Erinnerungen sind wichtige Quellen für die historische Forschung. Die Memoiren des Antoine Köpe sind ein außergewöhnliches Beispiel. Er erlebte den Untergang des Osmanischen Reichs, trug im Ersten Weltkrieg die Uniform Österreich-Ungarns und war 1945 gezwungen, in die USA auszuwandern. Sein multimediales Vermächtnis wurde nun zur TV-Dokumentation.

„Wenn man älter wird, kommen viele Erinnerungen. Der Kinofilm meines Lebens entfaltete sich in meinem Kopf, eine Szene nach der anderen. Ich kann sagen, dass ich ein glücklicher Mann war. Ich habe das richtige Los gezogen. Die Traditionen meiner Familie sind erhalten geblieben, aber unsere Heimatländer existieren nicht mehr. Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich gehören der Vergangenheit an. Wenn ich daran denke, könnte ich weinen“, schreibt der 1897 in Konstantinopel geborene Antoine Köpe in seinen Lebenserinnerungen.

Konstantinopel, Zeichnung von Antoine Köpe
Antoine Kope Family Archive
Konstantinopel, gezeichnet von Antoine Köpe

Seine Memoiren sind „einzigartige Darstellungen weltpolitischer Ereignisse aus der Perspektive eines Durchschnittsbürgers“, formuliert die britische Historikerin Elizabeth F. Thompson in der Universum History-Doku „Zwischen Kaiser und Sultan. Das Schicksal des Antoine Köpe“. Antoine wächst im multikulturellen Thessaloniki in einer ungarisch-französischen Familie auf. Er wird Zeitzeuge historischer Umwälzungen wie der Balkankriege, der türkischen Revolution und des Zusammenbruchs des Osmanischen und des Habsburger Reichs.

TV-Hinweis

Universum History, 22.10.2021, 22 Uhr 35, ORF2: „Zwischen Kaiser und Sultan. Das Schicksal des Antoine Köpe“ Ein Film von Nefin Dinç, basierend auf den Memoiren von Antoine Köpe

Antoine ist Zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher und humorvoller Chronist. Er verwendet alle Medien, die ihm zur Verfügung stehen, führt Tagebuch, fotografiert, dreht auf einer Pathé-Kamera 9,5 mm-Amateurfilme, macht witzige Karikaturen und Skizzen.

Sein Nachlass, aus dem die türkische Regisseurin Nefin Dinç ihren Film montiert hat, ist ein außergewöhnlicher Schatz, der Antoines Lebensgeschichte vor ihrem historischen Hintergrund abbildet. Nicht nur die großen historischen Ereignisse haben ihren Eindruck in seiner Lebensgeschichte hinterlassen, sondern auch Alltägliches: die Liebe, die Kinder, die erste Filmkamera.

Für Österreich-Ungarn im Krieg

Antoine hat sich stets danach gesehnt, die Uniform Österreich-Ungarns zu tragen und einen Orden zu bekommen. 1914 erfüllt sich sein Wunsch. Im ersten Weltkrieg wird er an die Gaza-Front nach Palästina geschickt.

Mein Vater sagte zu mir: „Mein Kind, schau dir diese glorreiche Armee an, deren Soldaten so unterschiedlicher Herkunft sind. Das Reich wird wie ein Kartenhaus einstürzen. Und deine Kinder werden sich nicht vorstellen können, dass Angehörige verschiedener Völker in derselben Armee dienen konnten, ohne sich gegenseitig die Kehle durchzuschneiden.“ Ich sagte mir, dass mein Vater nur so daherrede. Ich glaubte an unseren Sieg, aber mein Vater sollte Recht behalten.

Seinen Orden bekommt der ernüchterte Antoine in Konstantinopel, wenige Monate vor dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie.

Antoine mit Kameraden an der Front im Ersten Weltkrieg
Antoine Kope Family Archive
Antoine Köpe mit Kameraden an der Front im Ersten Weltkrieg

Der Zerfall der Habsburger-Monarchie fördert den Nationalitätenkonflikt offen zutage. Antoines Heimat ist im Osmanischen Reich, das nicht mehr existiert. Die Uniform des Habsburgerreichs macht ihn im von den Alliierten besetzten Istanbul zum Verfolgten.

Doch er bleibt in der Türkei, heiratet seine große Liebe Emilié, eine Griechin, und zieht mit ihr nach Kandilli ans Schwarze Meer. Dort erlebt er den griechisch-türkischen Krieg und die großen Umsiedelungen. Als Kemal Atatürk an die Macht kommt, wird er als Nicht-Türke und Christ zum Verräter und verliert seinen Job. Der glückliche Zufall bringt ihn als Bankleiter nach Zentralanatolien.

Opfer der Zeitenwende

„Antoine ist das klassische Opfer einer Zeitenwende“, sagt die griechische Historikerin Christina Koulouri, „Er musste sich jedes Mal neu erfinden, war ohnmächtig gegenüber den Zwangslagen durch die historischen Umstände.“ Vergeblich bemüht er sich um die türkische Staatsbürgerschaft. Als ihm die kommunistische Regierung Ungarns nach 1945 die Staatsbürgerschaft entzieht, wird er staatenlos. Ihm und seiner Familie bleibt nur die Emigration in die USA. Dort entstehen seine Memoiren – ein außergewöhnliches Beispiel für biografisches Schreiben.

Biografie-Boom

Biografisches Schreiben erlebt heute einen Boom, weiß Günter Müller, Leiter der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien. Die Vielfalt der Formen und Medien, in denen dies geschehe, lasse sich nicht mehr in einer Sammlung fassen, beobachtet der Sozialwissenschaftler einen aktuellen Trend. Das Konzept der klassischen Autobiografie werde zunehmend von Texten über bestimmte Lebensausschnitte oder thematische Aspekte abgelöst.

Lebensgeschichtliche Sammlungen

Fast 4.000 Manuskripte umfasst die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen. Das Archiv wurde in den 1980er Jahren vom Sozialwissenschaftler Michael Mitterauer gegründet und umfasst den Zeitraum von 1750 bis heute. Die Texte sind wertvolle Quellen für die geschichts-, sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung, die auf diese Materialien zugreifen kann. Nicht nur große historische Ereignisse hinterlassen ihre Eindrücke in individuellen Lebensgeschichten, sondern auch alltägliche Lebenswelten. So entstehen anschauliche Bilder einer Epoche.

 Antoine und seine Frau Emilié mit den Kindern Karoly und Sandor
Antoine Kope Family Archive
Antoine Köpe und seine Frau Emilié mit den Kindern Karoly und Sandor

Das Leben von Durchschnittsmenschen

Wie Antoine Köpe sind die Autor*innen „Durchschnittsmenschen“, die aus den unterschiedlichsten Motiven schreiben. Wie Antoine wollen viele ihre Lebensgeschichte für Kinder und Enkel bewahren, andere erforschen so die Familiengeschichte. Hatten Autor*innen früherer Zeiten vor allem das Bedürfnis, die andere Welt ihrer Kindheit und Jugend in Kriegs- und Krisenzeiten zu beschreiben, so seien die Erzählungen heute individualistischer, spontaner, beliebiger und auch fragmentarischer geworden, sagt Müller. Ausgewählte lebensgeschichtliche Texte oder Textsammlungen werden in der mittlerweile 69 Bände, umfassenden Editionsreihe „Damit es nicht verlorengeht…“, im Böhlau Verlag publiziert.