Heiliger Antonius: Im Dickicht der Phantasmen

Die Versuchungen des heiligen Antonius inspirieren seit Jahrhunderten phantastische Erzählungen und Kunstwerke. Zugleich provozieren sie Fragen nach dem Wesen von Trugbildern und Phantasmen. Der Philosoph Jakob Moser skizziert in einem Gastbeitrag, warum die spätantike Heiligenlegende heute noch fasziniert.

Der koptische Eremit Antonius zog sich Ende des 3. Jahrhunderts in die ägyptische Wüste zurück. Dort wurde er laut Überlieferung vom Teufel und seinen Dämonen durch Simulacra, d. h. durch trügerische Phantome und Chimären, versucht. Da Antonius allen Versuchungen trotzte, wurde er rückwirkend zu einem „Vater der Mönche“ und „Heiligen der Imagination“ verklärt. Der heroische Dämonenkampf machte Antonius zum Vorbild christlicher Askese und galt als künstlerischer Vorwand, den Wildwuchs der Phantasmen in einem theologisch gesicherten Rahmen zu kultivieren. Von der antiken Legende bis zum modernen Roman, vom byzantinischen Fresko bis zum Farbfilm lotet die Figur des Antonius seither die Grenzen des Vor- und Darstellbaren aus.

Objektive Phantasie

Über den Autor

Jakob Moser studierte Philosophie in Innsbruck und Wien. Seit 2021 ist er APART-GSK-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Wien. Derzeit ist er Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK)/Kunstuni Linz, wo er am 25. Oktober einen Vortrag über die Antonius-Ikonografie halten wird.

Die Phantasmen, die Antonius plagten, werden seit Anbruch der Moderne meist als Ausgeburten subjektiver Ängste und Begierden verstanden. Dahingegen beteuerten frühchristliche Hagiografien und Kirchenväter deren Objektivität: Dämonen, glaubten sie, könnten dank ihrer luftartigen Körper fremde Formen annehmen oder auf die menschliche Einbildungskraft einwirken. So entstünden teuflische Trugbilder.

Aus prämoderner Perspektive erschien die Wüste, in der Antonius hauste, also weniger als psychologische Projektionsfläche denn als physische Produktionsstätte von Phantasmen. Diese Sicht, die Spätantike und Mittelalter dominierte, wurde in der Frühen Neuzeit sogar radikalisiert, als Inquisitoren und Hexenverfolger die Dämonologie in den Rang einer empirischen Wissenschaft erheben wollten. Zeitgleich mehrten sich kritische Stimmen, die den „Hexenwahn“ als subjektiv-pathologisches Phänomen entlarvten.

Teuflische Kombinatorik

Zu Beginn der großen Hexenverfolgung und am Vorabend der Reformation wurden die Versuchungen des Antonius in den bildenden Künsten besonders populär. Die sozialen und wissenschaftlichen Krisen der Neuzeit steigerten zweifellos uralte Ängste vor dämonischen Krankheiten, Trugbildern und Manipulationen. Groteske Mischwesen, die einst die Marginalien mittelalterlicher Buchmalerei und Architektur bevölkerten, wanderten nun im Zuge der Antonius-Ikonografie zunehmend ins Bildzentrum.

Die Versuchungen des heiligen Antonius von Hieronymos Bosch
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„Die Versuchungen des heiligen Antonius“, Nachfolge von Hieronymus Bosch, circa 1515

Vor allem nördlich der Alpen entfaltete sich, etwa in den Bildern von Martin Schongauer, Hieronymus Bosch oder Matthias Grünewald, eine teuflische Kombinatorik, welche die Grenzen des Vorstellbaren systematisch sprengte: Animalische, menschliche Glieder und (seit Bosch) auch Maschinenteile werden verknüpft, um immer erstaunlichere Gestalten hervorzubringen. Diese Bildlogik folgt einem theologischen Kalkül: Weil der Teufel nichts wirklich Neues zu schaffen vermag, kann er nur bestehende Geschöpfe imitieren, deformieren, kombinieren. Die Phantasmen der Malerei unterliegen denselben objektiven Gesetzmäßigkeiten wie jene der Dämonen; sie sind ein perfider „Remix“ der göttlichen Schöpfung.

Bibliomanie

Mit dem Roman La Tentation de saint Antoine katapultierte Gustave Flaubert die Heiligenfigur schließlich in die Moderne. Flaubert widmete sich Antonius mit manischer Gelehrsamkeit und feilte beinahe 30 Jahre an dem Text, den er mehrfach umgestaltete. Detailliert studierte er die mythologische, dämonologische und ikonografische Tradition und verwob sie zu einer intertextuellen „Götzendämmerung“ der Moderne. Positivismus und Historismus des 19. Jahrhunderts verbannen die Götter und die Dämonen der Vergangenheit in die Museen und Bibliotheken. Doch das Phantastische kehrt wieder, es steigt unaufhörlich aus dem Staub der Archive.

Vor diesem Hintergrund keimt in Antonius der Wunsch, jenseits aller Texte unmittelbar mit der lebensspendenden Materie zu verschmelzen, deren Schaffenskraft noch phantastischer ist als die der überkommenen dämonischen Mächte. Die Wunderwesen der Wimmelbilder von Bosch und Co. werden vom Gewimmel des Lebendigen, das der naturwissenschaftliche Blick offenbart, übertroffen. Wie Antonius navigiert Flauberts „Realismus“ zwischen Phantasmen, die objektiv in den Wissensspeichern der Moderne und in den Möglichkeiten der Natur schlummern.

Ethik des Trugbildes

Die Geschichte des Heiligen Antonius versucht den Status dämonischer Trugbilder zu fixieren. Dabei verbirgt sich hinter den verschiedenen Versuchen, die Objektivität der Phantasie zu begreifen, ein ethisches Problem: Wie soll man mit Phantasmen umgehen, die sich der Kontrolle unserer Psyche notorisch entziehen? Optimistische Erkenntnismodelle minimieren die Bedeutung von Trugbildern. Sie erzeugen das Trugbild, dass wir alle Trugbilder überwinden können. Antonius lehrt uns hingegen, dass Trugbilder notwendig und unumgänglich existieren. Letztlich lautet die Frage nicht, wie wir sie vermeiden, sondern wie wir mit ihnen leben können, ohne uns selbst zu kompromittieren.