Emmy Bernatzik mit einem Fulup-Jüngling, 1930/31, Portugiesisch-Guinea (heute Guinea-Bissau).
Photoinstitut Bonartes, Wien
Photoinstitut Bonartes, Wien
Zeitgeschichte

Wiener Völkerkundler als Handlanger der Nazis

Das heutige Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien ist in der NS-Zeit eine wichtige Schaltstelle gewesen. Die Nationalsozialisten wollten den Kolonialismus wiederaufleben lassen – und zwar mit Hilfe der Völkerkunde. Wiener Forscher haben diese Zeit nun detailliert aufgearbeitet.

“Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien 1938 –1945. Institutionen, Biografien und Praktiken in Netzwerken“, so lautet der etwas sperrige Titel eines dreibändigen, aufwendig recherchierten Werks der Wiener Kultur- und Sozialanthropologen Peter Rohrbacher und Andre Gingrich von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Im Zentrum stand für sie die Frage, wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Studentinnen und Studenten, diese Zeit konkret erlebt haben und wie sie mit der Situation umgegangen sind.

Nazis bauten Institut um

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich nämlich Grundlegendes am damaligen Institut für Völkerkunde in Wien (heute: Institut für Kultur- und Sozialanthropologie). Gegründet wurde es 1929 vom katholischen Missionar Pater Wilhelm Schmidt, erster Leiter war Pater Wilhelm Koppers. Es entwickelte sich bald zum größten und bedeutendsten Völkerkunde-Institut im deutschsprachigen Raum, sein Ansatz war theologisch geprägt. Bekannt war es etwa für die Weiterentwicklung der sogenannten Kulturkreislehre, die heute allerdings als rassistisch und längst überholt gilt.

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 3.11., 13:55 Uhr.

Open-Access-Publikation

Am Mittwoch 3.11., ab 16 Uhr gibt es eine Online–Buchpräsentation mit den Herausgebern Peter Rohrbacher und Andre Gingrich. Die drei Bände kann man gratis herunterladen.

1938 bauten die Nazis das Institut um, Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers flohen ins Exil, erklärt der Kultur- und Sozialanthropologe Peter Rohrbacher von der Akademie der Wissenschaften. „Wien sollte ein Zentrum der kolonialen Wissenschaften werden. Da spielte die Völkerkunde eine zentrale Rolle“.

Koloniale Expansion als Ziel

Die Nationalsozialisten setzten den jungen Völkerkundler Hermann Baumann an die Spitze des Instituts, ein NSDAP-Mitglied aus Berlin und ausgewiesener Afrika-Experte. Anstelle des theologisch-missionarisch geprägten Ansatzes traten nun die Rassenideologie und neue Unterwerfungspläne. In der Kolonial-Polizeischule Strebersdorf sollten Völkerkundler dann das Personal für die koloniale Administration ausbilden. „Dort wurden sprachliche Kurse abgehalten, und was eben an völkerkundlichem Wissen notwendig war, um als Kolonialbeamter nach Afrika geschickt zu werden“, erklärt Peter Rohrbacher.

Entwurf von Erika Sulzmann in Vorbereitung einer „Stammeskarte von Afrika“
Institut für Ethnologie und Afrikastudien, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Nachlass Sulzmann
Einer von vielen Entwürfen der Völkerkundlerin Erika Sulzmann in Vorbereitung einer „Stammeskarte von Afrika“

Mehr als hundert Archive durchforstet

Über sieben Jahre haben 28 Autorinnen und Autoren in über hundert Archiven in zehn Ländern recherchiert. Sie wollten wissen, wie die Wissenschaftler und Studenten mit der neuen Situation umgegangen sind. Aus zahlreichen privaten Beständen konnten sie rekonstruieren, wie sich die politische Situation auf die einzelnen Personen ausgewirkt hat.

„Private Bestände vermitteln die Korrespondenzen und Netzwerke viel authentischer als Behördenarchive“, meint Rohrbacher. „Privat wurde offener berichtet oder erzählt, was vor einer Behörde nicht ausgesprochen werden durfte.“ Ein Beispiel dafür ist die Studentin Annemarie Hefel. „Sie hatte Hermann Baumann als Dissertationsbetreuer und das brachte sie zur Verzweiflung: Wir haben einen Briefbestand im Ordensarchiv in Rom gefunden, wo Hefel mit dem Pater Wilhelm Schmidt im Schweizer Exil über die Probleme der Dissertationsbetreuung kommuniziert“, so Rohrbacher.

Wilhelm Schmidt als Figur des Widerstandes

Pater Wilhelm Schmidt entwickelte sich zu einer tragenden Figur des Widerstandes, das ist eines der überraschenden neuen Ergebnisse der Studie: Er floh ins Schweizer Exil und baute im Alter von 75 Jahren mit vatikanischem Geld eine Widerstandsorganisation auf. Er betreute österreichische Wehrmachtsdeserteure, die in die Schweiz geflohen waren. Zudem baute er eine Nachrichtenorganisation mit auf, die im Herbst 1944 dem britischen Militärgeheimdienst übergeben wurde und dann Sabotageakte in Westösterreich durchführte.

Vorlesungsverzeichnis für Völkerkunde an der Universität Wien für das Wintersemester 1945/46
Universitätsarchiv Wien
Vorlesungsverzeichnis für Völkerkunde an der Universität Wien für das Wintersemester 1945/46

Opfer, Mitläufer, Nischendasein

Ein prominentes Opfer unter den Absolventinnen der Völkerkunde war Marianne Schmidl, eine ausgezeichnete Spezialistin für das subsaharische Afrika. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs hatte sie wegen ihrer jüdischen Herkunft mit zunehmenden Schwierigkeiten bis hin zu ihrer Entlassung zu kämpfen. Sie wurde 1942 in eines der polnischen Lager deportiert und kam auf dem Weg dorthin zu Tode.

Auch die Geschichten der Mitläuferinnen werden erzählt: Erika Sulzmann etwa kam mit Hermann Baumann aus Berlin nach Wien und war eine aktive Befürworterin der NS-Ideologie am Institut. Sie übte Druck auf die Studierenden aus und war bei der Ausarbeitung einer Kolonialkarte über afrikanische Stämme beteiligt.

Zwischen Opfer und Täter gibt es eine Bandbreiten an Nuancen, erklärt Peter Rohrbacher. Er führt das Beispiel des Dominik Josef Wölfel, ein Anhänger des Austrofaschismus, an. Wölfel war zwangspensioniert worden, weil seine Frau jüdische Vorfahren hatte. Er stand den Nazis kritisch gegenüber, erhielt aber weiterhin viele Forschungsgelder aus Berlin, weil er ein einflussreiches Netzwerk hatte.