Ohne die „Verpflanzung der Psychoanalyse an neue Orte, würde sie es in der heutigen Form nicht geben“, sagt Daniela Finzi, wissenschaftliche Leiterin des Freud-Museums und Kuratorin der Ausstellung „Organisierte Flucht – Weiterleben im Exil“, die Donnerstagabend eröffnet wird.
Fast lückenlose Erfolgsgeschichte
Bereits einen Tag nach dem „Anschluss“, am 13. März 1938, beschloss die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV), dass sämtliche Mitglieder so schnell wie möglich das Land verlassen sollten. Dank einer konzertierten Aktion gelang der Plan fast komplett. Bis zum Frühjahr 1939 waren alle Analytiker und Analytikerinnen aus Wien geflohen – vier von ihnen unglücklicherweise in Länder, die später von den Nazis erobert wurden. Sie wurden interniert und ermordet oder starben an den Folgen ihrer Internierung (Rosa Walk, Ernst Paul Hoffmann, Nikola Sugar und Otto Brief).
Insgesamt war die organisierte Flucht der Psychoanalyse aus Wien aber ein Erfolg. „Das ist eine ziemlich singuläre Geschichte, dass ein Wissenschaftskollektiv mit nahezu allen Mitgliedern ein Land verlassen konnte“, sagt Finzi. Möglich sei das nur mit Hilfe eines starken internationalen Netzwerkes von psychoanalytischen Vereinigungen gewesen. Sie halfen dabei, Wohnungen zu finden, Bürgschaften zu unterschreiben, Wertgegenstände zu transferieren, Visa zu organisieren und Spenden zu sammeln. Eine zentrale Rolle bei der Fluchtorganisation spielte der britische Analytiker Ernest Jones. Er führt 1938 in London eine Liste zum Status aller Geflüchteten, in der Angaben zu Visastatus, Finanziellem, Adressen und Ähnliches enthalten waren.
Nach London „too die in freedom“
„Jones hatte gemeinsam mit Anna Freud schon 1933 die Situation in Deutschland verfolgt, da ging es um die Rettung der Kolleginnen und Kollegen aus Berlin“, erzählt Ausstellungskuratorin Finzi. Die Situation sei dort eine andere gewesen – während in Berlin noch versucht wurde weiterzumachen, war in Wien 1938 klar, dass die Flucht vor den Nazis die einzige Option war. „Auch für Sigmund Freud, der noch bis knapp vor dem ‚Anschluss‘ gedacht hat, dass er weiter in Wien bleiben kann“, sagt Finzi. Zwei Razzien durch Gestapo und SA sowie die Verhaftung von Tochter Anna machten ihm klar, wie prekär die Lage war. Er verließ Wien mit seiner Familie Anfang Juni Richtung London „to die in freedom“, wie er in einem Brief an seinen Sohn Ernst schrieb. „Das Triumphgefühl der Befreiung vermengt sich stark mit der Trauer, denn man hat das Gefängnis, aus dem man entlassen wurde, immer noch sehr geliebt“, schrieb er anderswo.
USA veränderten die Psychoanalyse
Hauptziel der Geflüchteten in Europa war Großbritannien, generell aber die USA, und hier vor allem New York und Chicago. Das hatte nicht nur Auswirkungen auf die individuellen Lebensbiografien, sondern damit verbunden war auch ein „massiver Theorieexport“, so Finzi. Dieser Export ließ die Psychoanalyse vermutlich anders weiterentwickeln, als wenn sie ihre Zentrale weiter in Mitteleuropa gehabt hätte. „Mit der amerikanischen Mentalität und ihrem Pragmatismus und Optimismus wurden neue Schwerpunkte gesetzt als in der Freud’schen Psychoanalyse. Der Todestrieb etwa wurde nicht übernommen.“ Ein weiteres Beispiel: Heinz Hartmann, einer der aus Wien geflüchteten Psychoanalytiker, wurde in den USA zu einem Begründer der Ich-Psychologie und betonte die Anpassungsleistungen des Ich.
Das neue soziokulturelle Umfeld veränderte die Psychoanalyse, aber auch auf individueller Ebene erzeugte das Exil Dynamiken. „In der New Yorker Psychoanalytic Society übernahmen die Wiener und Wienerinnen bis in die 50er Jahre führende Positionen. Und das führte natürlich zu Konflikten mit den alteingesessenen Analytikern“, erzählt Finzi. Dennoch sei speziell die amerikanische Vereinigung sehr wichtig gewesen für die Geflüchteten – nicht nur, indem sie bei der Flucht half, sondern auch später, indem sie ihre Arbeitsmöglichkeit als Psychoanalytiker oder -analytikerin unterstützte.
Schweigen der Analytiker
„Es sticht ins Auge, dass die Analytiker selbst nur relativ wenig über ihre traumatische Fluchterfahrung geschrieben haben – ein Stück Schweigen und Verdrängen, das hier praktiziert wurde“, sagt Finzi. Es habe aber konstruktive Ansätze in diese Richtung geben, etwa die Gründung des Journals „The Psychoanalytic Study of the Child“, das als transatlantische Unternehmung galt und Wiener Arbeiten mit neuen Ansätzen kombinierte. „Das war ein Versuch, mit der Situation des Verlustes und des Fremdseins produktiv umzugehen, der zum einen ermöglicht, an etwas Altem anzuknüpfen, und zum anderen neues Terrain betreten lässt.“
Blieb in Wien im Untergrund bestehen
Ganz aus Wien verschwunden ist die Psychoanalyse auch unter dem NS-Regime nicht. „Sie besteht im Untergrund unter dem Pädagogen und Sozialarbeiter Thomas Aichhorn weiter“, erzählt Finzi. „Er wird mit seiner Arbeitsgruppe in die sogenannte Arbeitsgemeinschaft Wien des deutschen Instituts, die von dem Psychologen Matthias Göring geleitet wurde, eingegliedert.“ Aichhorn unterrichtete in einem illegalen Seminar eine kleine Gruppe von Hörern und Hörerinnen in seiner Wohnung Psychoanalyse – bis zum Kriegsende. 1946 war Aichhorn maßgeblich daran beteiligt, dass die WPV wiedereröffnet wurde – in einem Festakt unter Beisein vieler Politiker und Vertreter der Alliierten. Dauerhaft nach Österreich zurückgekehrt und wieder in der Psychoanalyse tätig war keiner und keine von den 1938 und 1939 Vertriebenen.