Ein Intensivmediziner, im Hintergrund eine Patientin
AFP – DIMITAR DILKOFF
AFP – DIMITAR DILKOFF
Bioethik

Die Kriterien der Triage

Die vierte Welle der Pandemie bringt Österreichs Spitäler an ihre Grenzen. Was Ärztinnen und Ärzten vor einem Jahr noch erspart blieb, ist nun traurige Wirklichkeit: Sie müssen entscheiden, wer intensivmedizinisch behandelt wird und wer nicht. Der Bioethiker Ulrich Körtner erläutert in einem Gastbeitrag die Kriterien der Triage – etwa Genesungsaussicht und Patientenwille. Keine Rolle dürfe hingegen der Impfstatus spielen.

Die aktuelle Corona-Lage in Österreich ist eine Katastrophe mit Ansage. Obwohl alle Expertinnen und Experten vor einer vierten Welle gewarnt haben, ließ die Politik den Sommer weitgehend untätig verstreichen. Versprochen wurde „ein Sommer wie damals“ und dass die Pandemie – zumindest für Geimpfte – praktisch vorbei sei. Zugleich wurde die Impfkampagne der Bundesregierung zurückgefahren, obwohl klar zu erkennen war, dass die erforderliche Impfquote von 80 oder mehr Prozent, ohne die es keinen wirksamen Gemeinschaftsschutz gegen das Coronavirus gibt, deutlich verfehlt werden würde.

Porträtfoto Ulrich Körtner
Hans Hochstöger

Über den Autor

Ulrich Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

Nun hat die vierte Welle das Land erfasst, und die Inzidenzzahlen sind inzwischen fast doppelt so hoch wie während der zweiten Welle im November 2020. Auch auf den Intensivstationen steigt die Zahl der Coronavirus-Patienten dramatisch an. Inzwischen dürfte klar sein, dass die Pandemie ohne eine allgemeine Impflicht nicht einzudämmen ist. 3-G-Regel und selbst eine Regel 2G+ – also geimpft oder genesen und zusätzlicher PCR-Test –reichen offenbar nicht mehr aus.

Jeder Geimpfte trägt dazu bei, die Lage im Gesundheitswesen und auf den Intensivstationen nicht weiter zu verschärfen. Kurzfristig lässt sich die vierte Welle aber nicht durch vermehrte Impfungen, aber auch nicht allein durch konsequentes Testen brechen. Kontaktreduktionen – sprich ein neuer Lockdown – sind unausweichlich. Doch selbst wenn solche Maßnahmen rasch greifen sollten, werden die Fallzahlen auf den Intensivstationen in den kommenden Wochen noch weiter ansteigen.

Betroffen sind nicht allein die Intensivstationen, sondern auch die übrigen Bereiche der Krankenversorgung. Immerhin liegen mehr als 2.000 Patienten und Patientinnen auf eigenen Covid-Stationen, die durchaus schwere Krankheitsverläufe haben. Für diese müssen an andere Stelle Betten freigemacht werden, so dass es zur Auslagerung von Patienten oder überhaupt zur Verschiebung ihrer Behandlung kommt. Folglich findet auch auf anderen Stationen eine Triage statt, wenn selbst dringende Operationen, zum Beispiel bei Krebspatienten, verschoben werden müssen, um Covid-Patienten vorrangig zu versorgen, oder wenn Behandlungsplätze für Menschen mit einem Herzinfarkt oder nach einem Unfall knapp werden. Gesundheitliche Schäden erleiden also auch solche Patientinnen und Patienten, die nicht am Covid-19 erkrankt sind.

Die Ressourcen sind begrenzt

Die Triage auf der Intensivstation ist das letzte Mittel der Wahl. Der Begriff stammt aus der Katastrophenmedizin. Man denke an eine große Zahl an Schwerletzten bei einer Naturkatastrophe oder nach einem Massenunfall, etwa einem Eisenbahnunglück. Dann müssen Ärztinnen und Ärzte entscheiden, wer die größten Überlebenschancen hat und behandelt werden soll und wer nicht.

Bevor es zu solchen Szenarien im medizinischen Alltag kommt, wird alles versucht, um Entlastung zu schaffen. Intensivbettenkoordinatoren tauschen sich aus, ob Patienten aus einem überlasteten Spital in ein anderes verlegt werden können. Das kann auch bundesländerübergreifend geschehen. 2020 gab es sogar Fälle von gesamteuropäischer Nachbarschaftshilfe, bei der zum Beispiel schwerkranke Covid-Patienten aus Frankreich in Salzburg behandelt wurden. Dennoch kann das Gesundheitssystem regional oder gar bundesweit an seine Grenzen stoßen.

Zwar hat Österreich im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eine relativ hohe Zahl an Intensivbetten. Auch wenn deren Anzahl in einer akuten Notlage noch erhöht und weitere Beatmungsmaschinen gekauft werden können, sind Engpässe nicht zu vermeiden. Die intensivmedizinische Versorgung von Covid-Patienten, noch dazu von solchen, die beatmungspflichtig sind, erfordert nämlich nicht nur ausreichend Arztinnen und Ärzte, sondern auch ein hochspezialisiertes Pflegepersonal. Ohne dieses Personal nutzen auch die Maschinen nichts.

Zwei Mitarbeiter einer Intensivstation in voller Montur von hinten umarmen einander
AFP – ALBERTO PIZZOLI

Das Fachpersonal ist nur begrenzt vorhanden und lässt sich auch nicht kurzfristig aufstocken. Nach der dreijährigen Grundausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege dauert die Zusatzausbildung zum Intensivpfleger oder zur Intensivpflegerin weitere zwei Jahre – Zeit. Das vorhandene Personal ist nach 20 Monaten der Dauerbelastung erschöpft. Etliche haben bereits den Dienst quittiert oder stehen davor, den Beruf aufzugeben.

Grundsätzlich gilt: Intensivmedizinische Ressourcen können nicht nur in Ausnahmesituationen wir der derzeitigen Coronavirus-Pandemie knapp werden. Sie sind stets begrenzt. Engpässe entstehen aber nicht nur auf den Intensivstationen, sondern auch in anderen Klinikbereichen, wenn Personal von anderen Stationen abgezogen wird, um die steigende Zahl an Covid-Patienten zu versorgen. Das ist eine aufwendige Pflege. Hinzukommt, dass Pflegekräfte oder Ärzte erkranken, wodurch die Arbeitslast der verbleibenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiter steigt. Das Thema Triage darf darum nicht isoliert betrachtet werden. Es handelt sich dabei eigentlich nur um die Spitze des Eisbergs und zeigt, welches Ausmaß die Pandemie inzwischen erreicht hat.

Allokation: Zuteilung knapper Mittel

Bereits im vergangenen Jahr haben medizinische Fachgesellschaften Handlungsempfehlungen für die Triage in der Intensivmedizin veröffentlicht. Im März 2020 publizierte die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) “Klinisch-ethische Empfehlungen für Beginn, Durchführung und Beendigung von Intensivtherapie bei COVID-19-PatientInnen“.

Schweizer und deutsche Gesellschaften folgten mit Empfehlungen, auch die österreichische Bioethikkommission gab eine Stellungnahme „zum Umgang mit knappen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung im Kontext der Covid-19-Pandemie“ ab. Im November desselben Jahres legten die Österreichischen intensivmedizinischen Fachgesellschaften (FASIM) gemeinsam ein Konsensuspapier „Allokationsethische Orientierungshilfe für den Einsatz knapper intensivmedizinischer Ressourcen“ vor.

Triage und Priorisierung sind Beispiele für die generell im Gesundheitswesen erforderliche Allokation, d. h. Zuteilung knapper Ressourcen an potenzielle Nutzerinnen und Nutzer. Allokationsfragen im Gesundheitswesen stellen sich nicht nur in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie.

Transparenter Kriterienkatalog

Grundsätzlich erfordert Allokation nicht nur Rationalisierung, sondern auch Rationierung. Dabei ist zu beachten, dass es nicht nur Phänomene der Unterversorgung, sondern auch der Überversorgung und der Fehlversorgung gibt, die sich nicht nur auf das Gesamtsystem unter medizinökomischen Gesichtspunkten, sondern auch auf individuelle Patientenwohl nachteilig auswirken können.

Aus medizinethischer Sicht sollten Allokationsentscheidungen möglichst weit weg vom einzelnen Patienten getroffen werden. Das gilt auch für die Versorgungslage in der COVID-19-Pandemie. Zunächst gilt es, die Situation knapper Ressourcen durch geeignete Allokationsmaßnahmen zu entschärfen, etwa durch Verlegung von Patienten, die keine Intensivtherapie benötigen, auf eine Intermediate Care Unit oder auf eine Normalstation.

Die Entscheidung, wer im Extremfall noch (weiter) behandelt werden soll und wer nicht, kann unter diesen Umständen keine Einzelfallentscheidung sein, sondern muss nach einem transparenten Kriterienkatalog getroffen werden. Auch gilt das Vier- oder Mehraugenprinzip. Die Entscheidung sollte demnach nicht ein einzelner Arzt oder eine einzelne Ärztin, sondern ein aus mehreren Personen bestehendes Ethikboard treffen.

Ein Covid-19-Patient wird beatmet
AFP – ALBERTO PIZZOLI

Ärzte orientieren sich dabei an einem festgelegten Entscheidungsablauf (Algorithmus) und an medizinischen Parametern in Form eines Punktesystems (Score), wobei verschiedene Scores etabliert sind. Sie bieten eine wesentliche Entscheidungsgrundlage für ein objektivierbares Vorgehen, ersetzen aber nicht die persönliche ärztliche Verantwortung.

Grundlegende Prinzipien für Priorisierungsentscheidungen sind:

  1. das Prinzip der Gerechtigkeit (Fairness)
  2. das Prinzip der Patientenautonomie – d.h. soweit bekannt, der Patientenwille
  3. die Menschenwürde
  4. die Überlebenschancen und die klinische Erfolgsaussicht.

Aussichtslose Therapien sind unethisch

Wenn beispielsweise ein Patient oder eine Patientin intensivmedizinische Behandlung ablehnt, darf er nicht gegen seinen Willen behandelt werden. Wenn die Ressourcen auf den Intensivstationen nicht mehr ausreichen, wäre es auch unethisch, einen Patienten im schlechten Gesundheitszustand, auch wenn er das dringend wünscht, intensivmedizinisch zu behandeln, wenn dafür ein Patient mit weit besseren Überlebenschancen abgewiesen werden müsste.

Es wäre auch deshalb unethisch, weil eine aussichtslose Therapie, die für den Patienten selbst mit hoher Belastung und zusätzlichem Leiden verbunden sein kann, letztlich nur einer Sterbeverlängerung gleichkäme. Zu bedenken sind dabei auch die Langzeitfolgen einer wochenlangen invasiven Beatmung.

Allgemein gilt der ethische und rechtliche Grundsatz „ultra posse nemo obligatur“ – „Über das Können hinaus wird niemand verpflichtet“. Zu einer unmöglichen Leistung besteht keine moralische Verpflichtung. Entscheidungen in Extremsituationen und bei ethischen Dilemmata sind für alle Beteiligten enorm belastend. Nicht nur die Entscheidungsträger, sondern auch das Pflegepersonal, die Patienten und ihre Angehörigen benötigen psychosoziale Unterstützungsangebote.

Erfolgsaussichten und Patientenwille

Zur Triage gehört es, regelmäßig zu überprüfen, ob eine bereits eingeleitete intensivmedizinische Behandlung fortgesetzt werden soll oder nicht. Eine intensivmedizinische Behandlung oder Krankenhauseinweisung ist auch dann nicht gerechtfertigt, wenn das Überleben des Patienten an den dauerhaften Aufenthalt auf einer Intensivstation gebunden ist.

Auch bei derartigen Entscheidungen dürfen allein die klinischen Erfolgsaussichten und der Patientenwille ausschlaggebend sein. Im Notfall kann das bedeuten, einen Patienten, der bereits intensivmedizinisch betreut wird, auf eine andere Station zu verlegen. Dadurch würde ein Beatmungsplatz für einen anderen Patienten frei.

Diese Form der Triage, bei der am Ende möglicherweise doch auch das Alter der Patienten in die Entscheidung einbezogen würde, ist freilich ethisch und rechtlich höchst umstritten, weil das Prinzip der Menschenwürde verbietet, ein Menschenleben gegen ein anderes aufzuwiegen. Unter Umständen müssten Ärzte in solch einem Fall auch mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen, wenngleich die Rechtsordnung auch den Tatbestand des übergesetzlichen bzw. entschuldigenden Notstands (§ 10 StGB) kennt. Aus Dilemma-Entscheidungen darf aber keine allgemeine ethische oder rechtliche Regel abgeleitet werden, die das unveräußerliche Grundrecht auf Leben untergraben würde.

Krankenbett: Infektionsabteilung im Kaiser-Franz-Josef-Spital
APA/HELMUT FOHRINGER

Ambivalenz der Altersfrage

Aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes ist eine Priorisierung weder nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten vertretbar, noch allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien. Im Klartext: Einerseits darf es keine Altersdiskriminierung geben. Andererseits werden, wie schon gesagt wurde, auch im Katastrophenfall Intensivbetten für andere Patienten benötigt, zum Beispiel für Unfallopfer, Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten oder frisch Operierte nach einem schweren Eingriff.

Es ist aber auch klarzustellen, dass bei schweren Krankheitsverläufen nicht bloß die Alternative zwischen Intensivbett oder Palliativstation und Sterbebegleitung besteht. Allerdings ist dafür Sorge zu tragen, dass es auch für die palliativmedizinische Versorgung einen Notfallplan gibt.

Vor-Triage in Pflegeheimen

Die Österreichische Palliativgesellschaft hat dazu bereits 2020 einen „Palliative pandemic plan“ vorgelegt. Ebenso hat die Deutsche Palliativgesellschaft Empfehlungen für die stationäre und ambulante Versorgung von Covid-19-Patienten veröffentlicht. Empfehlungen von Fachgesellschaften und Ethikräten zur Triage bleiben allerdings wirkungslos, wenn sie nicht in den Krankenanstalten für verbindlich erklärt werden. Hier sind nicht nur die einzelnen Spitäler gefordert, sondern auch die staatlichen, kommunalen und privaten Krankenhausträger.

Ein besonderes Augenmerk ist auf die Situation und Entwicklung in stationären Pflegeeinrichtungen zu richten. Es besteht die Gefahr, dass an COVID-19 erkrankte Bewohner und Bewohnerinnen zu rasch in Krankenhäuser verlegt werden. Hier bedarf es einer Vor-Triage, bei der im Sinne des Advanced Care Planning überprüft wird, ob ein Patient nicht in der Pflegeeinrichtung verbleiben und gegebenenfalls auch dort mit palliativer Begleitung versterben kann.

Solche Entscheidungen bedürfen aber einer sorgfältigen Abwägung und Rechtfertigung, weil andernfalls für Pflegeheimbewohner das Alter zum Ausschlusskriterium würde. Das aber verstieße gegen das geltend gemachte Verbot der Altersdiskriminierung. Auch in diesem Fall ist multiprofessionelle Klinische Ethikberatung wünschenswert, die nicht erst bei Einzelentscheidungen unterstützend wirken kann, sondern schon bei der Erstellung einer hausinternen Leitlinie.

Solidarität und Eigeninteresse

In der angespannten Lage geht es nicht allein darum, alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren und Triage-Situationen zu entschärfen. Genauso wichtig ist es, alles dafür zu tun, dass der Solidaritätsgedanke, der unserem Gesundheitswesen zugrunde liegt, Bestand hat und nicht untergraben wird.

Es ist ein gebotener Akt der Solidarität, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen. Eine Pandemie, so hat die Bioethikkommission treffend gesagt, ist keine Privatsache. Wer sich nicht impfen lässt, obwohl keine medizinischen Gründe dagegensprechen, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern nimmt Effekte in Kauf, die auch andere belasten und gefährden. Es gibt daher gute Gründe für eine allgemeine Impfpflicht, wenn der Staat seiner Pflicht nachkommen will, für den Schutz der Gesundheit und der öffentlichen Sicherheit nachzukommen.

Aus ethischer Sicht ist es freilich nicht akzeptabel, die intensivmedizinische Versorgung von Covid-Patienten davon abhängig zu machen, ob sie sich haben impfen lassen oder nicht. In einem auf dem Solidarprinzip basierenden Gesundheitswesen darf der Impfstatus generell kein Kriterium für die Triage sein, es sei denn, medizinischen Gründe sprächen dafür. Sollte die Impfung gegen Covid-19 die kurzfristigen Überlebenschancen nachweislich geringfügig erhöhen, könnte dies Einfluss auf die Entscheidung haben, ansonsten aber nicht. Das ist jedoch kein Freifahrtschein für Impfskeptiker und Impfgegner. Die Zeit, sie weiter gewähren zu lassen, ist vorbei.