Eine Ärztin impft eine Patientin
AFP – GENT SHKULLAKU
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Bioethik

Was für eine allgemeine Impfpflicht spricht

Mit Februar 2022 soll die Coronavirus-Impfpflicht Realität werden. Dagegen gibt es ernstzunehmende Argumente, meint der Bioethiker Ulrich Körtner in einem Gastbeitrag. Die allgemeine Impfpflicht sei ethisch dennoch geboten: Denn individuelle Freiheitsrechte haben dort ihre Grenzen, wo sie andere Menschen gefährden.

Nicht nur bei Impfgegnern gehen die Wogen hoch. Auch manche Impfbefürworter stehen einer Impfplicht skeptisch gegenüber. Sie fürchten, die gesetzliche Impfpflicht könnte kontraproduktiv wirken. Angehörige von Gesundheitsberufen könnten ihren Dienst quittieren und die damit ohnehin schon angespannte personelle Situation in den Spitälern und Pflegeeinrichtungen weiter verschärfen.

Die Durchsetzung einer allgemeinen Impfpflicht könnte auch vor praktischen Schwierigkeiten stehen. Impfunwillige könnten weiter versuchen, sich ihrer gesetzlichen Verpflichtung zu entziehen. Die angedachten Verwaltungsstrafen durchzusetzen, könnte längere Rechtsverfahren nach sich ziehen. Auch ist damit zu rechnen, dass die Zahl der zu erwartenden Verfahren die zuständigen Behörden an die Grenzen der Belastbarkeit bringt.

Diese Bedenken sind ernst zu nehmen, sprechen aber nicht grundsätzlich gegen eine allgemeine Impfpflicht. Juristisch lassen sich vermutlich Lösungen finden, die anstelle von Verwaltungsstrafen andere administrierbare Rechtsfolgen nach sich ziehen, so dass sich die Impfpflicht auch tatsächlich effektiv durchsetzen lässt.

Integrative Ethik: Absichten und Folgen des Tuns

Im Folgenden soll es aber nicht um rechtliche Detailfragen, sondern um die grundsätzlichen ethischen Gesichtspunkte gehen, die für eine allgemeine Impfpflicht sprechen. Der Beitrag vertritt die Position einer integrativen Ethik (Hans Krämer, 1929–2015), die einen pflichtenethischen Ansatz (z.B. Immanuel Kant) und einen strebensethischen Ansatz (z.B. Aristoteles) verbindet. Beide Zugangsweisen sind notwendig, weil sich keine von beiden auf die andere reduzieren lässt. Man kann auch sagen: Es handelt sich um komplementäre Ansätze, die einander ergänzen. Statt integrativer Ethik kann man auch Verantwortungsethik sagen. Diese fragt nicht nur nach den handlungsleitenden Absichten, sondern auch nach den tatsächlichen Folgen des eigenen Tuns.

Porträtfoto Ulrich Körtner
Hans Hochstöger

Über den Autor

Ulrich Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.

Grundlegend für die folgenden Überlegungen ist das Prinzip der Menschenwürde. Nach Kant (kategorischer Imperativ) verpflichtet sie dazu, jeden Menschen in seinem Selbstwert zu achten und nicht für fremde Zwecke total zu instrumentalisieren. Dem entspricht auch unsere Rechtsordnung. Generell gilt das Gebot der Freiwilligkeit und der Verhältnismäßigkeit. Jede Impfung ist ein Eingriff in die menschenrechtlich geschützte körperliche Unversehrtheit (Art. 3 Europäische Grundrechtecharta). Wie auch sonst in der Medizin ist das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu achten. Es ist auch grundrechtlich durch Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie Art. 7 der Europäischen Grundrechtecharta geschützt. Beide garantieren das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.

Pandemie ist keine Privatsache

Eine Pandemie ist allerdings keine Privatsache, wie die Bioethikkommission richtig feststellt. In einer Ausnahmesituation wie der Coronavirus-Pandemie kann auch die Impfung nicht als bloße Privatangelegenheit betrachtet werden. Zwar haben Freiwilligkeit, Informationskampagnen und Anreize, niederschwellige Impfangebote zu nutzen, allemal Vorrang vor Zwangsmaßnahmen. Wenn aber, wie in Österreich der Fall, alle auf freiwillige Maßnahmen setzen und nicht einmal der Versuch gemacht wird, den Druck auf Ungeimpfte durch Zugangsbeschränkungen zu erhöhen (2,5-G-Regel oder 2-G-Regel) und die Impfquote nennenswert zu erhöhen, ist eine Impfpflicht rechtlich und ethisch durchaus gerechtfertigt.

Der Staat hat die Aufgabe, für den Schutz und die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen. Wenn andere Möglichkeiten der Gefahrenabwehr nicht bestehen, ist es rechtlich, aber auch ethisch vertretbar, in Grundrechte einzugreifen, weil diese nicht absolut gelten, sondern stets gegen andere Grundrechte abzuwägen sind. Das ist ausdrücklich durch Absatz 2 in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorgesehen. Inzwischen gibt es auch mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wonach eine hinreichend begründetet Impflicht nicht im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention steht.

Die Grenzen des „Rechts auf Krankheit“

Im Konflikt um die Impfpflicht steht unter anderem zur Debatte, ob es ein Recht auf Krankheit gibt. Die Freiheit zum Leben und die Würde des Menschen, die nicht gegen andere Güter aufgerechnet werden darf, schließt die Freiheit zum Sterben ein, das heißt auch die Freiheit zu selbstverantwortlich eingegangenen gesundheitlichen Risiken. So verstanden gibt es ein Recht auf Krankheit.

Das Recht auf Kranksein anzuerkennen, ist die Grundlage eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems, in dem jeder im Krankheitsfall die nötige Behandlung und Pflege erhält, unabhängig von seinem Einkommen und seinem möglichen Verschulden. Eine praktische Konsequenz ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.

Demonstration von Impfgegnern am Ballhausplatz in Wien am Sonntag, 14. November 2021, auf einem Plakat steht „Nein zur Impfpflicht“
APA/GEORG HOCHMUTH
Demonstration von Impfgegnern am Ballhausplatz in Wien am Sonntag, 14. November 2021

Die Grenzen meiner Freiheit und meines Rechtes auf für mich riskantes und möglicherweise selbstschädigendes Verhalten sind freilich dort erreicht, wo mein Verhalten andere Menschen in Gefahr bringt. Auch ist zu bedenken, dass wir in der heutigen Gesellschaft gerade um unserer freiheitlichen Lebensführung willen auf einen starken Sozialstaat und ein funktionierendes Gesundheitswesen angewiesen sind. Unsere individuellen Vorstellungen vom guten Leben sind eingebettet in ein Gemeinwesen und gemeinsame Überzeugungen von einer wohlgeordneten Gesellschaft. Um ein funktionsfähiges Gesundheitssystem aufrecht zu erhalten und damit die einzelnen Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen funktionsfähig bleiben, sind Einschränkungen der individuellen Freiheit nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch zulässig, nämlich im Sinne der komplementären Verbindung von strebensethischen und pflichtenethischen Gesichtspunkten.

Es war ein politischer Fehler, jede Impfpflicht von vornherein auszuschließen, um sich am Ende des Wortbruchs bezichtigen lassen zu müssen. Auch wurde zu lange der Eindruck erweckt, Coronavirus-Tests seien eine gleichwertige Maßnahme zur Pandemiebekämpfung wie die Impfung. Es stimmt zwar, dass von einem aktuell negativ Getesteten eine geringere Gefahr als von einem nicht getesteten Geimpften ausgeht, der möglicherweise infiziert ist. Aber die Testung als solche bietet keinen Infektionsschutz.

Spezielle Impfpflicht für bestimmte Berufe

Grundsätzlich ist zwischen einer allgemeinen Impfpflicht und einer speziellen Impfpflicht als Berufsvoraussetzung zu unterscheiden. Für den Gesundheitsbereich hätte der Gesundheitsminister schon längst die Möglichkeit gehabt, auf der Grundlage von § 17 (3) des Epidemiegesetzes auf dem Verordnungsweg eine Impfpflicht als Berufsvoraussetzung zu verfügen. Dafür hätte es nicht einmal eines Parlamentsbeschlusses bedurft.

Auch sonst sind verpflichtende Schutzimpfungen im Gesundheitswesen nicht unüblich. Tatsächlich sind die Träger von Krankenanstalten schon dazu übergegangen, die Impfung gegen Covid-19 bei Neueinstellungen verpflichtend zu machen. Ähnlich ist es bei der Polizei. Weshalb die Impfung nicht auch von bereits Beschäftigten verlangt worden ist, lässt sich nur politisch erklären. Ethisch und rechtlich wäre dies unproblematisch. Problematisch hingegen ist es, wenn sich der Staat in einer Pandemie in der Frage der Impflicht ganz zurückhält und es dem privatrechtlichen Bereich (z.B. Veranstalter, Hotels, Fluggesellschaften) überlässt, Umgeimpfte von ihren Leistungen auszuschließen, was durchaus im Einklang mit geltendem Recht steht.

Geimpfte entlasten Spitäler

Gegen eine Impfpflicht lässt sich einwenden, dass auch zwei- und sogar dreifach Geimpfte nicht hundertprozentig gegen das Coronavirus immunisiert sind. Es kommt bekanntlich zu Impfdurchbrüchen, die allerdings in der Regel nur einen leichten Krankheitsverlauf nach sich ziehen. Nur wenige Covid-Patienten auf den Intensivstationen sind geimpft, und meist liegt, wie Ärzte und Ärztinnen berichten, bei den Betroffenen eine Vorerkrankung vor.

Geimpfte können sich, wie man inzwischen weiß, nicht nur mit Covid-19 infizieren, sondern das Virus auch auf andere übertragen, allerdings weniger lange und wohl auch weniger stark als Ungeimpfte. Mit der Impfung schützen Menschen nicht nur sich selbst zumindest vor schweren Krankheitsverläufen, sondern auch andere. Sie tragen zum allgemeinen Infektionsgeschehen weniger als Ungeimpfte bei.

Geimpfte leisten aber auch über das unmittelbare Infektionsgeschehen hinaus einen wesentlichen Beitrag zur Pandemiebekämpfung. Aufgrund ihres Impfschutzes und der geringen Wahrscheinlichkeit, im Krankheitsfall intensivmedizinisch behandelt werden zu müssen, tragen die Geimpften dazu bei, die Intensivstationen zu entlasten, die inzwischen an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Damit aber werden die Spitäler insgesamt entlastet, weil die vorrangige Behandlung von Covid-Patienten zu Lasten anderer Patienten geht, wenn beispielsweise selbst lebensnotwendige Krebsoperationen verschoben werden müssen.

Nicht zu vergessen sind die Alten- und Pflegeheimen, in denen in den zurückliegenden Wochen die Zahl der Neuerkrankungen gestiegen ist. Alte Menschen sind aufgrund ihrer oftmals generell schlechten gesundheitlichen Verfassung besonders vulnerabel.

Eigenverantwortung und Verantwortung für andere

Ethisch betrachtet geht es um das Prinzip der Fürsorge für die Patienten, das im Mittelpunkt von Konzepten einer Care-Ethik steht. Eine umfassende Sorgekultur nimmt aber auch die übrigen Mitarbeiter und die Angehörigen in den Blick. Man kann den Sachverhalt auch verantwortungsethisch darstellen: Eigenverantwortung und Verantwortung für andere, zumal solche, die in besonderer Weise vulnerabel sind, müssen in ein angemessenes Verhältnis gesetzt werden.

Krankenstände infolge von Covid-19 belasten das übrige Krankenhauspersonal, das ohnehin schon seit vielen Monaten unter Mehrbelastungen leidet. Sie belasten aber auch die Belegschaften in anderen Wirtschaftsbereichen. Zudem richten Maßnahmen wie der vierte Lockdown gesamtwirtschaftliche Schäden an. Erheblich sind auch psychische und soziale Folgen, wie etwa Arbeitslosigkeit.

Pflege auf der Intensivstation der Salzburger Landeskliniken (SALK): ein Patient liegt in einem Bett, ein Pfleger kümmert sich um ihn
APA/BARBARA GINDL
Pflege auf der Intensivstation der Salzburger Landeskliniken

Ein wirksamer Gemeinschaftsschutz, der laut Experten erst bei einer Durchimpfungsrate von 85 bis 90 Prozent erreicht wird, ist auch deshalb so wichtig, weil es Menschen gibt, die sich aufgrund von Vorerkrankungen nicht gegen Covid-19 impfen lassen können, oder bei denen die Impfung nicht ausreichend wirkt. Wer sich impfen lässt, trägt somit zum Schutz besonders vulnerabler Personen und Bevölkerungsgruppen bei.

Dazu zählen auch Kinder und Jugendliche. Dabei geht es nicht allein um ihre körperliche Gesundheit, sondern auch um ihr seelisches Wohlbefinden, ihre nötigen sozialen Kontakte zu Mitschülern und Gleichaltrigen. Erfreulicherweise besteht inzwischen die Möglichkeit, Jugendliche und auch Kinder ab dem Alter von fünf Jahren zu impfen. Aber auch in diesen Altersgruppen gibt es Menschen, die aufgrund anderweitiger Erkrankungen besonders vulnerabel sind.

Gefahr weiterer Mutationen

In Anbetracht der geschilderten Gesamtlage wäre es zynisch, weiter auf eine Impfpflicht zu verzichten und darauf zu warten, dass sich alle Ungeimpften im Laufe der nächsten Monate infizieren. Wer diese Vorgangsweise befürwortet, muss auch sagen, wie viele Tote er bereit ist, zusätzlich in Kauf zu nehmen. In Österreich sind bis zum 23. November 11.704 Personen an oder mit Covid-19 verstorben. Wer denkt an die Hinterbliebenen, die um sie trauern, deren Leben möglicherweise durch den Tod eines nahen Angehörigen aus der Bahn geworfen wurde und die nun vielleicht auch in wirtschaftliche Not geraten sind?

Je länger ein erheblicher Teil der Bevölkerung ungeimpft ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass weitere Mutanten des Virus entstehen, die möglicherweise noch aggressiver als die derzeit dominante Delta-Variante sind, die ohnehin schon gefährlicher als der Urtyp des Virus ist. Die Impfung dient also nicht nur zur Verhinderung einer möglichen fünften oder sechsten Welle des Delta-Virus, sondern einer Verschärfung der Pandemie, die dann eintreten könnte, wenn sich die bisher entwickelten Impfstoffe gegen neue Mutanten als weniger wirksam oder gar als unwirksam erweisen sollten.

Akt der Solidarität

Schon melden sich in der politischen Debatte Stimmen, die eine zeitliche Befristung der allgemeinen Impfpflicht fordern. Nachdem die Politik durch falsche Versprechungen das Vertrauen weitgehend verspielt hat, sollte man sich vor neuen Versprechungen, die sich nicht halten lassen, hüten. Biontech-Gründer Uğur Şahin rechnet damit, dass jährliche Auffrischungsimpfungen gegen das Coronavirus nötig sein werden.

Sich impfen zu lassen, liegt nicht nur im wohlverstandenen Eigeninteresse. Es ist auch ein Akt der Solidarität. Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft und einer freiheitlichen Demokratie. Freiheit gibt es aber nicht ohne Verpflichtungen. Sich in einer Pandemie impfen zu lassen, ist nicht nur eine moralische Pflicht. Es kann auch rechtlich geboten sein, wenn anders das Leben von Mitmenschen und die Freiheit anderer bedroht ist. Der Gedanke des Gemeinwohls hat während der Pandemie zunehmen gelitten. Ihn gilt es, neu im allgemeinen Bewusstsein zu verankern.

Keine Staatskrise, aber Staatsversagen

Wer jetzt behauptet, mit der angekündigten Impflicht sei Österreich auf dem Weg in die Diktatur, verhöhnt das Wesen unserer Demokratie. Wir leben in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat, in dem alles Recht vom Volke ausgeht und das heißt konkret: durch den Nationalrat oder die Länderparlamente gesetzt wird. Zum Wesen unseres Rechtsstaates gehört auch, dass seine Gesetze und Verordnungen vor dem Verfassungsgerichtshof auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden können. Das geplante Gesetz zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht bildet keine Ausnahme. Man kann und muss wohl im Blick auf die Coronavirus-Politik der zurückliegenden Monate von einem Staatsversagen sprechen. Von einer Staatskrise oder gar dem Ende der Demokratie kann aber keine Rede sein.