Oberer Grindelwald Gletscher und Schreckhorn in den Berner Alpen
FAU/Christian Sommer
FAU/Christian Sommer
Gletscherbilder

Die Vermessung einer schmelzenden Welt

Schmelzende Gletscher sind das Abbild der sichtbaren Erderwärmung. Begonnen hat ihre Vermessung im 19. Jahrhundert. Seit damals werden die schwindenden Eismassen auch fotografisch dokumentiert. Wie der Medienwissenschaftler Dominik Schrey in einem Gastbeitrag ausführt, sind die Fotoserien in ihrer Anschaulichkeit die Wegbereiter einer speziellen ökologischen Bildsprache.

Ende des 19. Jahrhunderts war die Fotografie bereits tief in jene Zeitdimension vorgedrungen, die zuvor weit unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwelle lag: Bekannt geworden sind etwa Eadweard Muybridges chronofotografische Studien, die die Bewegungsabläufe von Tieren in kleinste Zeiteinheiten aufgliederten. Eine ungleich größere Herausforderung stellte dagegen die Sichtbarmachung extrem langsamer Dynamiken dar – und zwar weniger in technischer Hinsicht als aufgrund der begrenzten Geduld oder Lebensspanne der Forschenden.

Porträt Dominik Frey
IFK

Über den Autor

Dominik Schrey ist akademischer Rat am Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft mit Schwerpunkt Digitale Kulturen an der Universität Passau und im Wintersemester 2021/22 Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK)/Kunstuniversität Linz, wo er am 29. November einen Vortrag zum Thema hält.

Etiènne-Jules Marey, ein weiterer Pionier der Chronofotografie, äußerte daher 1891 die Hoffnung, dass es „dermaleinst mit Hilfe von in sehr langen Zwischen-Räumen aufgenommenen Bildern“ auch gelingen könnte, die „langsamen Ortsveränderungen der Gletscher“ zu verfolgen. Dass er in diesem Zusammenhang die Gletscher als Beispiel wählte, ist kein Zufall. Dem so oft als Epoche der Geschwindigkeitsrevolution beschriebenen 19. Jahrhundert galten die bewegten Eismassen als Inbegriff der Langsamkeit. Gleichzeitig wurde das alpine Hochgebirge zum räumlichen Gegenmodell einer industrialisierten und urbanisierten Moderne umgedeutet.

Gletscherspuren lesbar machen

Auch die Wissenschaft begann sich zunehmend für Gletscher zu interessieren. Die Frage nach deren früherer Ausdehnung war ein heftig umstrittener Gegenstand geologischer Fachdebatten. 1840 veröffentlichte der Schweizer Naturforscher Louis Agassiz seine äußerst einflussreichen Untersuchungen über die Gletscher, mit denen die damals radikal erscheinende Theorie einer vergangenen Eiszeit popularisiert wurde. Große Teile der nördlichen Hemisphäre, so Agassiz, seien einst von gigantischen Gletschern bedeckt gewesen.

Als Beleg für diese Behauptung dienten ihm die Spuren, die diese längst verschwundenen Gletscher in der Landschaft hinterlassen hatten. Um diese Spuren nicht nur für die skeptische Fachgemeinschaft, sondern auch für Laien sichtbar zu machen, ergänzte er seine Studie um einen beeindruckenden Bildatlas. Der Band enthielt 32 Lithografien und setzte auf starke Kontraste: Traditionellen Landschaftsbildern wurden darin streng abstrahierte schematische Darstellungen derselben Ansichten gegenübergestellt, auf denen Konturlinien und schriftliche Markierungen die Interpretation lenkten. So sollte die Landschaft als Resultat sonst unsichtbar bleibender tiefenzeitlicher Prozesse buchstäblich lesbar werden.

Joseph Bettanier, Zermatt-Gletscher. Letzte Umbiegung des unteren Theiles, von der Seite gesehen, 1840, Lithographie
gemeinfrei
Joseph Bettanier, Zermatt-Gletscher. Letzte Umbiegung des unteren Theiles, von der Seite gesehen, 1840, Lithographie

Wesentliche Elemente seiner Theorie hatte Agassiz von Kollegen übernommen. Dass die Eiszeit heute dennoch vor allem mit seinem (aufgrund seiner späteren Rolle als Rassentheoretiker inzwischen in Misskredit geratenen) Namen verbunden wird, liegt nicht zuletzt an seinem geschickten Einsatz von Bildern, die es erlaubten, die Gletscherlandschaft mit anderen – seinen – Augen zu sehen.

Die Lehre von schwindenden Gletschern

So stand am Anfang der wissenschaftlichen Interdisziplin der Glaziologie oder Gletscherkunde die folgenreiche Entdeckung eines massiven Gletscherschwunds in der fernen Vergangenheit. Der Moment dieser Entdeckung, die in den folgenden Jahrzehnten intensiv diskutiert und mehrfach modifiziert wurde, fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn des – mit Ausnahme von zwei Vorstoßzeiten – bis heute anhaltenden Gletscherrückgangs ab Mitte des 19. Jahrhunderts.

Zunehmend irritiert über den Flächenverlust der Alpengletscher erwartete die nächste Generation von Glaziologen gegen Ende des Jahrhunderts die nach damaliger Lehrmeinung unmittelbar bevorstehende Trendwende. Um die Veränderungen der Gletscherstände systematisch zu beobachten, wurden dabei zunehmend auch fotografische Verfahren eingesetzt. Bereits zwei Jahre vor der von Marey geäußerten Hoffnung, die langsamen Gletscherbewegungen auf diese Weise sinnlich erfahrbar zu machen, begann eine Gruppe von Forschern um den bayrischen Geodäten Sebastian Finsterwalder in regelmäßigen Abständen Fotografien des Vernagtferners in den Ötztaler Alpen aufzunehmen.

Fotogrammetrie im Hochgebirge

Weil die Bilder auch zur Erstellung von topografischen Karten verwendet werden sollten, mussten sie den strengen Regeln des fotogrammetrischen Messregimes genügen. Vermessen wird bei der Fotogrammetrie nicht das Gelände selbst, sondern dessen fotografisches Abbild. Dafür mussten die Bilder immer von exakt denselben Standorten aus aufgenommen werden. Mit Hilfe von Theodoliten und genauen Protokollen blieb auch der Winkel der Aufnahmen jeweils identisch. Von 1889 bis 1928 entstand so eine Serie von Aufnahmen, die den langsamen Rückzug (und gelegentlichen Vorstoß) des für seine außergewöhnlichen Schwankungen berühmten Gletschers detailliert festhielt.

Auch Finsterwalder und seinen Kollegen ging es darum, tiefenzeitliche Prozesse sichtbar zu machen, allerdings auf eine ganz andere Art und Weise als Agassiz. Einerseits dienten die Bilder als Grundlage für aufwendige Vermessungsarbeiten. Sie fungierten als Ausgangsmaterial für Präzisionskarten und komplexe mathematische Modellierungen. Andererseits wurde ihr ästhetischer Mehrwert durchaus erkannt. Für das 1911 eröffnete Alpine Museum in München beauftragte Finsterwalder den Bergmaler Rudolf Reschreiter, etwa 50 Gemälde nach seinen Messbildern anfertigen zu lassen – in Farbe und bereinigt von den Markierungen für die wissenschaftliche Auswertung.

Reschreiter ließ es sich nicht nehmen, eine Serie von Karikaturen anzufertigen (siehe Bildserie), die sich auch als Reflexion auf die unterschiedlichen epistemischen Zugänge des Geodäten und des Malers deuten lässt: Anders als Finsterwalder, der dem Gletscher in der Darstellung mit wissenschaftlichen Instrumenten zu Leibe rückt und dafür verspeist und wieder ausgespuckt wird, bleibt der Maler im Vordergrund von diesem Vorgang gänzlich unbeeindruckt.

Rudolf Reschreiter, Vorstoß und Rücklauf des Vernagtferners beobachtet von Prof. Dr. S. Finsterwalder von 11 h 60 min. bis 12 h, 1911
gemeinfrei, Österreichischer Alpenverein
Rudolf Reschreiter, Vorstoß und Rücklauf des Vernagtferners beobachtet von Prof. Dr. S. Finsterwalder von 11 h 60 min. bis 12 h, 1911 (Im Besitz des Österreichischen Alpenvereins)

Mediengeschichte der Glaziologie

Zwar stellten Finsterwalder und seine Kollegen selbst keinen Bezug zu Mareys Chronofotografie her, doch ihre Reihenbilder gelten heute als Wegbereiter des Genres einer spezifischen Art ökologischer Bildsprache. Aufgrund der derart produzierten Anschaulichkeit sind vergleichbare Bildreihen längst zu einem wichtigen Instrument der Klimawandelkommunikation geworden. Denn anders als für die Interpretation von Klimadiagrammen, Datenkarten, Tabellen etc. ist zum Verständnis zunächst kein weiteres Fachwissen nötig. Aus medienhistorischer Perspektive sind diese frühen Bild- und Vermessungspraktiken der Glaziologie und die Rolle, die sie im Diskurs über den anthropogenen Klimawandel spielen, bislang kaum aufgearbeitet.