Eleanor Roosevelt mit der spanischen Version der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, 1949
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Gastbeitrag

Menschenwürde ist universell – und übersetzbar

Am 10. Dezember 1948 hat die UNO die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Zum Gedenktag erinnert der Philosoph Andris Breitling an einen zentralen Begriff darin: Menschenwürde. Warum eine Übersetzung dieses universellen Begriffs in verschiedene Kulturen und Sprachen konstruktiv und ohne Kulturrelativismus gelingen kann, beschreibt er in einem Gastbeitrag.

Den Begriff der Menschenwürde in verschiedene Sprachen zu übersetzen, erscheint aus zwei Gründen geboten: Erstens ist er ein Universalbegriff in dem ausgezeichneten Sinn, dass er für alle Menschen gelten soll, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprach- und Kulturgemeinschaft. Zweitens muss er durch Anwendung auf Fälle von Menschenrechtsverletzungen oder auf menschenunwürdige Lebensverhältnisse konkretisiert werden. Nach der These des französischen Philosophen Paul Ricœur kann die Übersetzung „konkrete Universalien hervorbringen, die ratifiziert, angeeignet, angenommen und anerkannt werden wollen“. Demnach ist der Begriff der Menschenwürde im Spiegel seiner Übersetzung zwischen verschiedenen Sprachen und Verwendungskontexten zu betrachten.

Porträtfoto von Andris Breitling
privat

Über den Autor

Andris Breitling ist Professor für Ethik, Sozialphilosophie und Kulturtheorie an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach.

Ein Foto (siehe oben) von Eleanor Roosevelt mit der spanischen Version der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) zeigt ihre Freude darüber, dass die Menschenrechte ihrem universalistischen Anspruch gemäß umgehend in die meistgesprochenen Sprachen der Welt übersetzt wurden. Aber geht das so einfach? Bedeutet die dignidád der spanischen Version dasselbe wie die dignity der englischen Vorlage?

Die Worte des Artikels 1 der AEMR am österreichischen Parlamentsgebäude in Wien scheinen für immer und ewig in Stein gemeißelt, unwandelbar und unmissverständlich. Betrachtet man aber die Wörter, die das Gemeinte in verschiedenen Sprachen zum Ausdruck bringen, wird deutlich, wie vielfältige Bedeutungsnuancen sie beinhalten und welchen Interpretationsspielraum es jeweils gibt. Dies gilt bereits für das deutsche Wort ‚Würde‘ mit seinen verschiedenen Synonymen und Antonymen.

Text des Artikels 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an der Außenwand des österreichischen Parlamentsgebäudes in Wien
Text des Artikels 1 AEMR an der Außenwand des Parlaments

Was ist Menschenwürde?

Im Menschenrechts-Denken des 18. Jahrhunderts ersetzt der Begriff der Würde (lat. dignitas) den der Ehre (lat. honor): Philosophen der Aufklärung wie Immanuel Kant setzen die universalistische Rechtsbehauptung gegen den alten aristokratischen Ehrenkodex. Dabei erhält der Begriff der Würde, der im Deutschen wie die lateinische dignitas zunächst die Würde eines Amtes oder eine herausragende gesellschaftliche Stellung bezeichnet, eine neue Bedeutung: Während die Würde des „Würdenträgers“ von gesellschaftlichen Institutionen, gesellschaftlicher Anerkennung abhängt und im Plural vorkommt, ist die Menschenwürde – Kant zufolge ein unendlicher Wert – nur eine und kommt dem Menschen einfach aufgrund seines Menschseins zu, unabhängig von der „Würdigung“ durch andere.

Im Begriff der Würde bleiben jedoch Bedeutungskomponenten des Ehrbegriffs erhalten. Die Achtung der Würde erfordert auch Akte der Anerkennung und Wertschätzung: Anerkennung von Rechten, Wertschätzung der Person mit ihren besonderen, individuellen Eigenschaften, Würdigung von Leistungen sowie Respektsbekundungen wie z.B. Formen der Höflichkeit, bei denen nicht klar zwischen dem allgemeinen Respekt für Personen und ihrer Hochschätzung als Angehörige einer bestimmten Statusgruppe zu unterscheiden ist.

Haben nur Menschen eine Würde?

1992 wurde die „Würde der Kreatur“ in die Schweizer Bundesverfassung aufgenommen (SBV Art. 120). Die französische Übersetzung gibt dies mit intégrité des organismes vivants wieder: Nach Angabe des Übersetzungsbüros wäre dignité de l’animal nicht mit dem französischen Sprachgefühl vereinbar. In Bezug auf Tiere von Würde zu sprechen, war lange Zeit auch im Deutschen unüblich. Mittlerweile aber finden es viele deutsch sprechende Menschen nicht mehr befremdlich, auch „anderen Tieren“ eine Würde zuzuschreiben. Dies weist zum einen darauf hin, dass die „Integrität“ eines Lebewesens über den Schutz der körperlichen Unversehrtheit hinaus auch einen respektvollen, artgerechten Umgang erfordert. Zum anderen zeigt es, dass die körperliche Unversehrtheit kein sekundäres, sondern „integrales“ Bedeutungselement der Menschenwürde ist.

Was ist der Grund der Würde des Menschen?

Kant zufolge ist Autonomie, die Fähigkeit zur freien Selbstgesetzgebung der Grund der Würde eines jeden vernünftigen Wesens. In der christlichen Tradition dagegen hat der Mensch Würde allein durch Gott oder vermöge seiner „Gottebenbildlichkeit“. Diese Auffassung, die sich noch bei dem Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola findet, bestimmt auch die Interpretation der Menschenwürde durch muslimische Denker, die die Übersetzung des Wortes dignity ins Arabische mit karāma(t) (كرامات) mit Bezug auf den Koran, Sure 17/70 begründen. Hier heißt es (Gott spricht): „Und wir haben die Kinder Adams geehrt [oder: ausgezeichnet] (wa-karramnā banī Ādama).“

Vortrag

Am 9.12. hält Andris Breitling am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) / Kunstuniversität Linz in Wien einen Vortrag zum Thema, er findet hybrid statt (Anmeldung hier).

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Inwieweit das „Gottesgeschenk“ der Würde oder der Freiheit als eine „freigebige“, den Empfänger selbst freigebende Gabe aufzufassen ist oder als Aufgabe, ist eine im christlichen wie muslimischen Gottesdenken umstrittene Frage. Nach der letzteren Auffassung obliegt es dem Menschen, sich zum Glauben an Gott zu bekennen und das göttliche Gesetz einzuhalten. Extremistischen Deutungen zufolge impliziert der göttliche Auftrag darüber hinaus, Andere zu dem als einzig wahr betrachteten Glauben zu bekehren, – u.U. mit Gewalt, was dem Prinzip der gleichen Würde und Freiheit aller Menschen widerspricht.

Von daher ist mit Bezug auf die jeweiligen Übersetzungen und religiösen Deutungen des Menschenwürde-Begriffs zu diskutieren, ob die von Jürgen Habermas geforderte „Übersetzung“ zwischen religiösen und säkularen Wertvorstellungen im Sinne einer konsensorientierten Verständigung gelingen kann. Unter Umständen dienen Übersetzungen des Würdebegriffs in eine religiöse Sprache der strategischen Ersetzung des Menschenrechts durch ein Gottesrecht, das über jenes gesetzt wird, – wie umgekehrt die Philosophie Habermas zufolge durch eine „hartnäckige Übersetzungsarbeit“ Grundbegriffe wie Person und Willensfreiheit aus ihren religiösen Kontexten herausgelöst hat.

Kampagnenplakat zum Tag der Menschenrechte 2021
Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights
UNO-Kampagnenplakat zum Tag der Menschenrechte 2021

(Wie) Kann man seine Würde wahren, verlieren oder wiedergewinnen?

Der Gedanke, der Mensch müsse sich der ihm eigenen Würde erst würdig erweisen, erscheint ebenso paradox wie die Formulierung in Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes, die Würde sei „unantastbar“, – während das Gesetz doch gegen die „Antastung“ der Würde schützen soll. Diese scheinbar paradoxen Formulierungen weisen darauf hin, dass der Begriff der Menschenwürde vielschichtige Zusammenhänge zwischen Selbstverhältnis und sozialen Verhältnissen bezeichnet. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die Übersetzung des Menschenwürde-Begriffs ins Japanische.

Das aus dem klassischen Chinesisch übernommene Wort songen (尊厳), das in Art. 24.2 der japanischen Verfassung von 1946 die Menschenwürde bezeichnet, bezog sich zunächst – in der Wortbedeutung ‚unnahbar‘, ‚streng‘, ‚erhaben‘ – ausschließlich auf Menschen, die sich durch herausragende Eigenschaften oder eine hohe gesellschaftliche Stellung auszeichnen: Personen von Rang wie der Kaiser. In der seit den 1980er Jahren in Japan geführten Debatte um einen menschenwürdigen Umgang mit Sterbenden gewinnt das Wort als Bezeichnung einer würdevollen Haltung im Angesicht des Todes weitere Verbreitung. Der Ausdruck songenshi (尊厳死, dt. würdevoller Tod oder Sterben in Würde) beinhaltet wie im Deutschen das Konzept einer sensiblen, respektvollen Betreuung und Begleitung, die es Sterbenden ermöglicht, ihre Selbstachtung nicht zu verlieren und dem Tod möglichst gelassen entgegenzugehen. In dieser Entwicklung lassen sich Anzeichen eines Wertewandels in der japanischen Gesellschaft erkennen, in der möglicherweise der Begriff der Menschenwürde an Bedeutung gewinnt.

Übersetzung als Auseinandersetzung

Die Beispiele zeigen, dass die Wörter, mit denen der Universalbegriff der Würde in verschiedene europäische und außereuropäische Sprachen übersetzt wird, im jeweiligen Kontext ihrer Verwendung unterschiedliche, kulturell geprägte Auffassungen vom Menschen und seiner Würde zum Ausdruck bringen. Dies gilt bereits für Ausdrücke mit gemeinsamer Wortherkunft aus dem Lateinischen: Zwischen dem altrömischen Verständnis der dignitas und der menschenrechtlich gewendeten dignité der Französischen Revolution sind ebenso interessante Unterschiede festzustellen wie zwischen der „unantastbaren“ Würde des deutschen Grundgesetzes, der dignity internationaler Menschenrechtskonventionen und deren Übersetzungen ins Arabische oder Japanische.

Die Betrachtung des Menschenwürde-Begriffs im Spiegel seiner Übersetzung zwischen Sprachen und Kulturen führt aber nicht zu einem Kulturrelativismus, der den im Zeitalter der europäischen Aufklärung begründeten Menschenrechts-Diskurs radikal in Frage stellen würde: Indem die verschiedenen Übersetzungen dazu herausfordern auszubuchstabieren, was der Begriff der Würde in unterschiedlichen Verwendungskontexten bedeuten kann, bieten sie Anknüpfungspunkte für eine konstruktive, kulturübergreifende Auseinandersetzung um seinen Sinngehalt, seine praktische Anwendbarkeit ebenso wie um seinen Anspruch auf universelle Geltung. Diese Auseinandersetzung reflektiert mit Blick auf Prozesse der Übersetzung, Ersetzung, Entgegensetzung und Weiterentwicklung ethisch-rechtlicher Grundbegriffe zu führen, ist in Zeiten der Globalisierung, am Tag der Menschenrechte 2021 ein Gebot der Stunde.