Frau liest ein Buch mit Brille
Goffkein/stock.adobe.com
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Sprachverarbeitung

Für Gehirn ist Lesen und Sprechen dasselbe

Bei Lesen bewegen sich die Augen ruckartig über einen Text. Die kleinen Bewegungen folgen dabei fast demselben Rhythmus, in dem gesprochene Sprache verarbeitet wird, berichten nun Forscherinnen und Forscher. Vermutlich fungiere das Gehirn als eine Art Taktgeber für die Verarbeitungsgeschwindigkeit.

Beim Sprechen und beim Zuhören verarbeitet bzw. produziert das menschliche Gehirn die Informationen in einem bestimmten Takt. In jeder Sprache erkennt ein Zuhörer oder eine Zuhörerin ungefähr eine Informationseinheit, wie z.B. eine Silbe, in 200 Millisekunden, schreiben Benjamin Gagl, der bis vor kurzem am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien tätig war, und Kollegen in einer soeben im Fachblatt „Nature Human Behavior“ erschienenen Studie.

Etwa genauso lang verharren die Augen eines Lesers bzw. einer Leserin an einer Stelle, wenn sie über den Text gleiten, zumindest bei Buchstabenschriften wie im Deutschen. Bei Zeichenschriften – wie etwa der chinesischen – dauere es etwas länger, ca. 250 Millisekunden. Vermutlich sei das Lesetempo kein Zufall, schreiben Gagl und Co. Das legen Leseexperimente, die an der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Salzburg durchgeführt wurden, sowie einschlägige Studien aus 14 verschiedenen Sprachen nahe.

Unterschiede bei Zeichenschriften

Bei den Experimenten wurden die Bewegungen des Auges vorerst von 50 deutschsprachigen Lesern, später dann auch von Leserinnen mit anderer Muttersprache mit einer Kamera aufgezeichnet. Die Fokussierung beim Lesen erfolgt laut den Forschern und Forscherinnen sprunghaft. So lässt sich messen, wie lange ein Auge auf einem Wort verharrt. „Wir haben uns die Rhythmik in den Sprüngen angeschaut“, so Gagl. Tatsächlich zeigte sich, dass sich die Augen etwa in derselben Frequenz bewegten, in der das Gehirn die sinntragenden Einheiten von Sprache verarbeitet.

Auch die Befunde der internationalen Studien zum Lesetempo kamen zu einem recht ähnlichen Ergebnis. Leichte Unterschiede gab es wie angenommen lediglich bei anderen Schriftsystemen. Dort stecke eben mehr Information in einzelnen Zeichen.

Übung entscheidend

Insgesamt sprechen die Ergebnisse dafür, dass geschriebene und gesprochene Sprache sehr ähnlich verarbeitet wird. Das Gehirn ist gewissermaßen der Taktgeber für das Auge. Mit etwas Übung kann man sich allerdings von dieser Vorgabe ein Stück lösen. Das zeigten weitere Experimente, bei denen erfahrene Vielleser mit schwächeren Lesern oder Personen, die nicht in ihrer Muttersprache lasen, verglichen wurden.

Bei den geübten Probanden bewegten sich die Augen schneller über den Text als bei den ungeübten. Und nur bei letzteren war die Sprech- und die Augenbewegungsfrequenz ganz eng miteinander verknüpft. Sie lasen also fast so, wie sie sprechen – so als würden sie sich mit einer Art innerer Sprache selbst vorlesen. Ein guter Leser kann hingegen dem natürlichen Takt entkommen, indem er in der Leserichtung mit den Augen vorauseilt. So kann er laut den Fachleuten mehr Text aufnehmen und verarbeiten. In dieser vorwegnehmenden Vorverarbeitung liege der Schlüssel zum rascheren Lesen.