Arbeitssuchende warten in einer Geschäftsstelle des AMS-Wien
APA/ROLAND SCHLAGER
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Nobelpreis 2021

Wie lange Arbeitslose arbeitslos bleiben

Pandemiebedingt muss die Nobelpreiszeremonie auch heuer wieder im kleinen Rahmen stattfinden, die Preisträger konnten nicht nach Stockholm anreisen. Unter ihnen ist der Wirtschaftswissenschaftler David Card, der neue empirische Experimente entwickelte. In Österreich untersuchte er, ob länger unterstützte Arbeitslose auch länger arbeitslos bleiben.

Anfang Oktober verkündete das Nobelpreiskomitee, dass in diesem Jahr eine „empirische Revolution“ mit dem Preis für Wirtschaftswissenschaften, gestiftet von der Schwedischen Reichsbank im Gedenken an Alfred Nobel, ausgezeichnet werden sollte. Angestoßen hätten sie drei Ökonomen, die in den USA forschen, mit ihren Arbeiten zu „natürlichen Experimenten“. Einer davon ist David Card, Professor an der University of California in Berkeley, der eine Hälfte des Preises für seine empirischen Beiträge in der Arbeitsökonomie erhält.

Natürliche Experimente als Ausgangspunkt

Ausgangspunkt dieser empirischen Revolution war eine Studie aus dem Jahr 1992, an der David Card gemeinsam mit Alan Krueger, einem späteren Berater Barack Obamas, arbeitete. Der 1960 in Kanada geborene Card ist zu diesem Zeitpunkt Assistenzprofessor an der Princeton University. Im Mittelpunkt dieser Studie, „Mindestlöhne und Beschäftigung: Eine Fallstudie der Fastfood-Industrie in New Jersey und Pennsylvania“, stand ein natürliches Experiment.

„Bei natürlichen Experimenten handelt es sich gewöhnlich um Begebenheiten, in denen ein Gesetz, eine Regulierung oder ein Ereignis eine bestimmte Gruppe von Menschen, eine bestimmte Reihe von Arbeitnehmenden oder eine bestimmte Stadt betrifft und gleichzeitig eine vergleichbare Gruppe bzw. Region nicht davon betroffen ist“, so Card. Man untersucht also, wie sich diese Maßnahme auf die eine Gruppe auswirkt und vergleicht das mit der Situation der Kontrollgruppe.

Anleihe aus der medizinischen Forschung

Card und Kruger werden beim Design ihrer natürlichen Experimenten von der medizinischen Forschung inspiriert: Dort werden Ursache und Wirkung anhand randomisierter Experimente untersucht. Die Teilnehmenden werden zufällig in zwei Gruppen eingeteilt, die statistisch gesehen ident sind. Eine Gruppe erhält eine Behandlung, wie Tabletten oder eine Impfung, die andere Gruppe erhält ein Placebo. Dann werden die Folgen der Therapie in beiden Gruppen verglichen, um glaubwürdige Beweise für die Wirkung dieser Behandlung zu erhalten.

In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften kann dieser Zugang Forschende allerdings vor unlösbare Herausforderungen stellen: Geht es bei der „Behandlung“ um sozialpolitische Fragen wie höhere Löhne, kürzere Arbeitslosenunterstützung oder besser Schulbildung können die Auswirkungen nur schwer in einem Labor-Setting untersucht werden. Card und Kruger suchten also nach einer Alternativen, dem natürlichen Experiment, und leisteten damit 1992 Pionierarbeit.

Experiment widerlegt die Theorie

Damals wurde der Mindestlohn im Bundesstaat New Jersey von 4,25 Dollar auf 5,05 Dollar angehoben. Das theoretische Modell besagte, dass diese Maßnahme zu einem Verlust von Arbeitsplätzen führen musste. Die Ökonomen überprüften diese Theorie anhand der Beschäftigung in Fastfood-Restaurants und verglichen die Entwicklung in New Jersey mit jener im benachbarten Pennsylvania, wo der Mindestlohn nicht angehoben wurde. „Wir konnten konträr zu vorherrschenden Theorie zeigen, dass der höhere Mindestlohn nicht zu einem Jobverlust führte, sondern sich sogar ein leichter Anstieg bei den Arbeitsplätzen abzeichnete“, sagt Card.

In diesen Folgenstudien versuchte man auch genauer zu erklären, warum sich der höhere Mindestlohn eben nicht negativ auf die Anzahl der Arbeitsplätze auswirken muss. Eine kommt zu dem Schluss: Steigen die Löhne, wollen mehr Menschen arbeiten, das heißt, es können mehr freie Stellen besetzt werden und deswegen steigt die Beschäftigung.

Ein Mitarbeiter des AMS (Arbeitsmarktservice) berät vor dem AMS wartende Personen
APA/BARBARA GINDL

Zugang zu Daten ermöglichte Revolution

Möglich machte diese empirische Revolution erst ein besserer Zugang zu Daten. Um natürliche Experimente durchführen zu können, brauchen die Forschenden Registerdaten, also Informationen über Alter, Einkommen, Wohnort, Löhne, Sozialleistungen, Schulbildung, usw. Aufbauend auf solchen Daten forschte David Card auch zu Österreich. Gemeinsam mit der Ökonomin Andrea Weber von der Central European University untersuchte er beispielsweise das Modell der Arbeitslosenunterstützung in Österreich, genauer die Frage, wie sich die Dauer der Arbeitslosenunterstützung auf die Dauer der Arbeitslosigkeit auswirkt.

Wer in Österreich in den vergangenen fünf Jahren insgesamt drei Jahre gearbeitet hatte, konnte Arbeitslosenunterstützung länger beziehen, als jene, die weniger als drei Jahre gearbeitet hatten. Also teilten Weber und Card die Teilnehmenden ihres natürlichen Experimentes in zwei Gruppen ein: Jene, die zumindest drei Jahre in den vergangenen fünf Jahren beschäftigt waren und solche, die im gleichen Zeitraum nur zwei Jahre und elf Monate beschäftigt waren. Sie erhielten sehr ähnliche Gruppen, die in Bezug auf Alter, Geschlecht, vorheriges Einkommen, Bildungstand vergleichbar sind und wie zufällig diesen beiden Gruppen zugeordnet werden, fast wie bei einem Laborexperiment.

Wie Theorie und Wirklichkeit zusammenpassen

So konnten die beiden Ökonomen untersuchen, ob jene, die länger Arbeitslosenunterstützung beziehen auch länger arbeitslos sind. Dem ist tatsächlich so, auch wenn der Unterschied gering ist. Dass eine längere Arbeitssuche auch positive Aspekte hat, zeigte Weber in einer Folgestudie: Wer länger arbeitslos ist, bekommt letztlich höher bezahlte Jobs. Es gibt also einen Effekt auf die Qualität der Arbeitsplätze. Die große Errungenschaft von Cards Forschung sei die Möglichkeit, nun zahlreiche theoretische Modelle überprüfen zu können, so Andrea Weber.

Das habe die Wirtschaftswissenschaften fundamental verändert und damit auch die Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik. Anhand solcher natürlichen Experimente könnten Ökonominnen und Ökonomen empirisch überprüfen, warum theoretisches Modell und Wirklichkeit nicht zusammenpassen, die Theorien anpassen und erneut überprüfen. „Wir haben jetzt eine viel stärkere Wechselwirkung zwischen empirischer Forschung und theoretischer Forschung“, sagt Weber. Diese Wechselbeziehung habe damals mit diesen Studien begonnen und einen Prozess in Gang gesetzt, der nach wie vor wichtig sei.