Ein Bankangestellter hält eine Reihe afrikanischer Banknoten in der Hand
APA/AFP/Seyllou
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Gesellschaft

Die Ökonomie der Heimatüberweisungen

Viele Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen schaffen es trotz prekärer Jobs, irgendwie noch Geld an ihre Familien im Heimatland zu überweisen. Für die Empfänger ist das oft überlebenswichtig, doch die Überweisungen haben auch Schattenseiten. Ein nun untersuchtes Beispiel: Migranten aus der Türkei, die in den 70er Jahren im Tiroler Stubaital arbeiteten.

Am meisten Geld aus Heimatüberweisungen fließt derzeit nach Indien, China und Mexiko. In kleineren Ländern wie dem Libanon oder Tonga machen Heimatüberweisungen sogar mehr als 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus, so der Ethnologe Claudius Ströhle, derzeit Fellow am Internationalen Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien. Das Geld kommt aus reicheren Ländern etwa in Europa oder den USA. Dort verdienen es die Menschen aus ärmeren Herkunftsländern meist in prekären Jobs und überweisen es regelmäßig an ihre Familien.

Neue Abhängigkeiten

Für viele Menschen in ärmeren Ländern ist dieses Geld überlebensnotwendig, manche bezahlen damit ihre Nahrung, andere die Schule der Kinder oder die Arztrechnung. Claudius Ströhle sieht das nicht nur positiv, sondern auch kritisch. Denn die Überweisungen üben innerhalb Familien manchmal enormen Druck auf die Beteiligten aus und führen außerdem zu mehr Abhängigkeiten, meint er. So habe man während der Finanzkrise 2008 gesehen, dass vor allem Migrantinnen in prekären Jobs ihre Arbeit verloren haben. Davon waren dann auch die Familien in den Herkunftsstaaten betroffen.

720 Milliarden US-Dollar in einem Jahr

Arbeitsmigranten und -migrantinnen, die von ihrem oft mageren Einkommen einen Teil an ihre Familie und Freunde in der Heimat überweisen – dieses Phänomen gibt es schon seit dem 19.Jahrundert, als viele Europäer in die USA auswanderten. Banken wie Western Union haben die Geldtranfers vereinfacht und professionalisiert.

Vortrag

Heute am 13.12. hält Claudius Ströhle am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) / Kunstuniversität Linz in Wien einen Vortrag zum Thema, er findet hybrid statt (Anmeldung hier).

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 13.12., 13:55 Uhr.

Heute fließen so viele private Überweisungen wie nie zuvor aus reicheren in ärmere Länder. 2019 wurden laut Weltbank weltweit 720 Milliarden US-Dollar überwiesen. Das sei mehr als vier Mal so viel wie die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit ausmache, so Ströhle. Die Welthandelsorganisation WTO preise diese Überweisungen als Form der Armutsbekämpfung an, doch das sei gefährlich, meint der Ethnologe.

Ersetzt keine öffentliche Hilfe

In seiner Dissertation hat sich Ströhle die Geschichte der Geldüberweisungen von Arbeitsmigranten aus der Türkei im Tiroler Stubaital in den 70er Jahren bis heute und deren Auswirkungen auf die türkische Heimat angesehen. Er sprach mit Migrantinnen und Migranten aus der Türkei in Österreich und reiste in deren Heimatprovinz Usak.

Ein Bürgermeister eines Dorfes in der Türkei beklagte etwa, dass viele Menschen das Geld meist nur ihren Familien geschickt, und diese es für sich selbst verwendet hätten. Für die Dörfer aber sei sehr wenig getan worden. Für Ströhle zeigt dieses Beispiel eines der Probleme mit den Überweisungen auf: „Das ist ein sehr neoliberales Verständnis, dass man sagt, die Verantwortung geben wir jetzt den Migrantinnen und Migranten, und die sollen die Entwicklung in den Herkunftsstaaten vorantreiben."

Mehr Hilfeleistung, weniger Gebühren gefordert

Stattdessen fordert er, die Entwicklungszusammenarbeit und die internationalen Unterstützungen für die ärmeren Länder auszubauen, damit die Familien und auch die örtliche Infrastruktur weniger von den privaten Überweisungen abhängen. Die Vereinten Nationen fordern, dass die Gebühren für solche Überweisungen auf unter drei Prozent gesenkt werden. Die meisten Banken verlangen derzeit mindestens 6,5 Prozent pro Überweisung.

Überweisungen in die Türkei: Ein buntes Bild

In seiner Forschungsarbeit zeigt Ströhle kein Schwarz-Weiß Bild der Heimatüberweisungen, auch „Remittances“ genannt. Vielmehr zeigen sich für ihn vielfältige Auswirkungen auf die Region Usak: Da gibt es neu gegründete Unternehmen, etwa ein Betrieb, der Rinder aus der EU in die Türkei importiert, aufgebaut mit dem Geld von Arbeitsmigranten. Außerdem neu gebaute oder restaurierte Häuser in der Stadt Usak.

Manche Menschen erzählten ihm, wie sie früher die Überweisungen gespart und damit Geräte für die Landwirtschaft gekauft oder die Kinder in die Schule geschickt hätten. Gleichzeitig konnten die Überweisungen in die Heimat die Land-Stadt-Migration nicht aufhalten, einige Dörfer seien mittlerweile fast verlassen, so Ströhle. Zudem hätten die Gelder neue Ungleichheiten erzeugt zwischen denen, die Gelder und Güter erhalten haben, und denen, die nichts bekommen haben.

Geldströme verändern sich

In der Türkei seien die klassischen Heimatüberweisungen heute kein relevantes Thema mehr, so Ströhle. Zwar gebe es immer noch die Tradition des Schenkens und teilweise auch finanziellen Zuwendungen zwischen den Daheimgebliebenen und den Weggezogenen. Doch hauptsächlich fließen heute die Geldströme woanders hin: aus der Türkei hinaus nach Syrien, dem Heimatland vieler Gastarbeiter beziehungsweise Geflüchteter.