Politische Theorie und politische Philosophie sind rein europäische Phänomene. Zu diesem Schluss könnte man zumindest kommen, wenn man sich die Inhalte und Lehrpläne an europäischen Universitäten anschaut. Frauen kommen darin ebenso selten vor wie nicht-westliche Denker:innen. Zumindest in Bezug auf Letztere war das jedoch nicht immer so. Max Weber zum Beispiel ging in seinem 1919 gehaltenen Vortrag Politik als Beruf explizit auf verschiedene indische Texte und die darin verhandelten politischen Fragen ein. Er bezog sich dabei auch auf ein nur wenige Jahre zuvor, nämlich 1905, in Indien wiederentdecktes Lehrbuch der politischen Theorie, das sogenannte Arthashastra des Kautilya.

Über den Autor
Philipp Sperner studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Languages and Cultures of South Asia in Innsbruck und London. Er ist Doktorand an der LMU München und derzeit Junior Fellow am Internationalen Forschungs-zentrum Kulturwissenschaften | Kunstuniversität Linz in Wien.
Vortrag
Philipp Sperner hält am 20. Dezember, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Von der Freundschaft zwischen Maus und Krähe“, er findet hybrid statt.
Folgt man der Geschichte dieses Werks, stößt man auf einen weitverzweigten Korpus an Texten, die sich ausführlich mit Fragen politischer Herrschaft, dem richtigen gesellschaftlichen Zusammenleben sowie der Ökonomie und Verwaltung beschäftigen. Eine Auseinandersetzung damit ist nicht nur aus philosophiegeschichtlicher Perspektive interessant, sondern erlaubt zudem spannende Einblicke in die Entwicklung politischer Ideen, die sich immer schon in einem komplexen Gefüge von Austausch- und Transferbeziehungen bewegen. Nicht zuletzt wird es so möglich, ein allzu enges und auf Europa beschränktes Verständnis von Politik und Politischer Theorie aufzubrechen und zu dekonstruieren.
Lehrbuch für angehende Könige
Das auf Sanskrit verfasste Arthashastra, das in den ersten Jahrhunderten nach unserer Zeitrechnung entstanden sein dürfte, richtete sich als eine Art umfassendes Self-Help Manual an angehende Herrscher und Könige, um ihnen die Grundlagen erfolgreicher Herrschaft und effizienter Verwaltung zu vermitteln. Getreu seinem Titel, der sich mit „Wissenschaft des [ökonomischen und politischen] Erfolgs“ übersetzen ließe, thematisiert das Arthashastra Aufbau und Struktur von Verwaltung, Justiz und Recht ebenso wie Fragen der Außenpolitik, Diplomatie und der strategischen Kriegsführung.
Das Arthashastra war weder das einzige noch das historische einflussreichste Werk dieser Art. So entstand mit dem Panchatantra vermutlich um 300 nach unserer Zeitrechnung eine Sammlung moralisch-didaktischer Tierfabeln, die die zentralen Lehren des Arthashastra in einfach verständlicher Form einem breiterem Publikum zugänglich machte. Wie schon im Arthashastra selbst spielen auch in den Geschichten des Panchatantra Freundschaften und Bündnisse eine zentrale Rolle.
Das gesamte erste Buch ist etwa dem strategischen Aufbrechen von Bündnissen für den eigenen Vorteil gewidmet. Zwei Schakale kämpfen darin um politischen Einfluss am Hof des Löwenkönigs, dessen Gunst sie vor allem dadurch zu gewinnen trachten, dass sie den mit ihm befreundeten Stier gegen ihn aufhetzen, um sich in weiterer Folge als Retter des Königs darstellen zu können. Nun lässt sich diese Geschichte sowohl als Anleitung zum strategischen Einsatz von Falschinformationen als auch als Warnung vor falschen Freunden lesen. Genau diese Deutungsoffenheit dürfte auch ein zentraler Grund für den Erfolg des Panchatantra gewesen sein, das so gleichermaßen zum Lehrwerk eines politischen Realismus wie auch zu einem moralischen Traktat der Besonnenheit werden konnte.

Indische Fabeln in Europa
Im weiteren geschichtlichen Verlauf scheint die zweite Lesart immer mehr an Bedeutung gewonnen zu haben. Das betrifft sowohl Indien selbst, in wohl noch größerem Ausmaß aber die Rezeption des Werkes außerhalb Indiens. Über persische und arabische Übersetzungen wanderte das Panchatantra ab dem 6. Jahrhundert westwärts und wurde unter dem Titel Kalila wa-Dimna (die arabisierten Namen der beiden Schakale) zunächst im gesamten arabischen Raum und ab dem 12. Jahrhundert auch in Europa bekannt. Als Die Fabeln des Pilpay (oder Bidpai) gingen sie hier zum Teil sogar in den volkstümlichen Märchen- und Fabelschatz ein. Auch einige von La Fontaines berühmten Fabeln beruhen explizit auf den Geschichten Pilpays und damit auf dem indischen Panchatantra. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung von der geschwätzigen Schildkröte, die im entscheidenden Moment ihren Mund nicht geschlossen halten kann und in den Tod stürzt, statt sich weiter an dem Ast festzubeißen, an dem ihre beiden Vogelfreunde sie durch die Lüfte tragen.

Politische Comics
Auch in Indien sind die Geschichten des Panchatantra über die Jahrhunderte hinweg bis heute bekannt und beliebt geblieben. Inzwischen kennt man sie vor allem in Form von Comics der überaus erfolgreichen Amar Chitra Katha-Reihe, die ab den 1970er-Jahren Generationen von Kindern der indischen Mittelschicht stark geprägt haben. Zwar erscheinen die Tiergeschichten des Panchatantra darin nicht mehr als vereinfachte Darstellung politischer Lehrmeinungen, sondern vor allem als moralische Fabeln, die Kindern richtiges Verhalten vermitteln, doch ihre gesellschaftspolitische Tragweite ist damit keineswegs ganz verschwunden.
In meiner aktuellen Forschungsarbeit beschäftige ich mich mit der politischen Dimension der Panchatantra-Geschichten im 20. Jahrhundert und versuche insbesondere, ihre Rolle in der Ausbildung einer modernen indischen Mittelschichtsmoral und eines individuellen Erfolgsideals zu beleuchten. Dabei zeigt sich, dass auch hier Freundschaftsbeziehungen ein zentraler Stellenwert zukommt, da sie besonders dazu geeignet sind, soziale Beziehungen und Vorstellungen politischer Gemeinschaftlichkeit zu thematisieren und zu reflektieren.
Die vielschichtige Geschichte des Arthashastra wie des Panchatantra ist Teil einer noch weitläufigeren Geschichte politischer Ideen im globalen Kontext. Die ständige Aktualisierung und immer wieder erneute Rezeption dieser Texte bis in die Gegenwart nachzuverfolgen, ermöglicht es in weiterer Folge auch, dass selbst Begriffe und Konzepte wie Liberalismus und Rechtsstaatlichkeit bei all ihrer europäischen Prägung nicht lediglich als Teil einer immateriellen europäischen Exportmasse verstanden werden, sondern immer auch im Kontext ihrer je kulturell spezifischen Geschichte(n) und gleichzeitig in ihrer Einbindung in ständige transkulturelle Übersetzungsprozesse untersucht werden.