Dichte Rauchwolken über dem Regenwald
JOAO LAET/AFP
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Klimakrise

„Wir sehen Warnsignale im Regenwald“

Laut der Umweltforscherin Kirsten Thonicke zeigt der Amazonas-Regenwald bereits Anzeichen eines ökologischen Zusammenbruchs. Umso wichtiger wäre es, politisch rasch gegenzusteuern: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Land- und Meeresflächen auf der Erde unter Schutz gestellt werden.

science.ORF.at: Frau Thonicke, Klimaschutz und der Zustand der Ökosysteme sind eng miteinander verknüpft, wurde dieser Zusammenhang in der öffentlichen Debatte bisher zu wenig beachtet?

Kirsten Thonicke: Dem würde ich zustimmen. Positiv ist jedenfalls, dass dieser Zusammenhang nun auf der Klimakonferenz in Glasgow angesprochen bzw. angemahnt wurde. Das ist als Diplomatie anzuerkennen. Der Fachwelt ist dieser Zusammenhang natürlich schon lange bekannt. Man weiß um die positiven Effekte, wenn man Klimaschutz und Biodiversitätsschutz zusammen betrachtet.

Umweltforscherin Kirsten Thonicke
PIK

Zur Person

Kirsten Thonicke forscht am Potsdam Institut für Klimafolgenforschung. Sie ist stellvertretende Abteilungsleiterin der Forschungsabteilung Erdsystemanalyse und Sprecherin des Leibniz-Forschungsnetzwerkes Biodiversität.

Was bedeutet das konkret für das Klima?

Thonicke: Wenn wir, so wie es sich die Staatengemeinschaft vorgenommen hat, die Entwaldung bis 2030 stoppen, haben wir einen positiven Effekt, weil wir die Wälder als Kohlenstoffspeicher schützen. Und weil wir die Arten, die in diesen Wäldern leben, dadurch ebenso schützen. Das ist der klassische Effekt – natürlich müsste man auch fordern, der Verschmutzung Einhalt zu gebieten, weil dadurch die Ökosysteme weniger unter Stress stehen.

Je gesünder ein Ökosystem, desto eher ist es fähig, den Klimawandel abzupuffern?

Thonicke: Genau, je mehr Arten in einem Ökosystem vorhanden sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich darin stabile Nahrungsnetze aufbauen. Durch störende Einflüsse können sich in diesen Netzen zwar die Dominanzverhältnisse zwischen Arten verändern, aber das Ökosystem bleibt dennoch erhalten – auch unter den Bedingungen des Klimawandels.

Was Emissionen und Erderwärmung betrifft, gibt es präzise Modelle. Nach dem bisher Gesagten müsste man das eigentlich koppeln an den Gesundheitszustand der Ökosysteme. Wurde das schon berechnet?

Thonicke: Das wurde versucht, ist aber schwierig. Und zwar deshalb, weil man Tausende Arten und ihre Interaktion in solchen Modellen abbilden müsste. Für die „Convention on Biological Diversity“ versucht man nun jedenfalls, eine Vision für ein Leben in Harmonie mit der Natur zu entwickeln. Eines der Ziele lautet: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt werden. Damit kann man den Nationen konkrete Handlungsoptionen mit auf den Weg geben und sich überlegen, wie das in die nationale Gesetzgebung übertragbar ist.

Das gilt für welches Erwärmungsszenario?

Thonicke: 30 Prozent beziehen sich zunächst auf 1,5 Grad. Über zwei Grad bräuchten wir einen noch größeren Anteil an Schutzzonen.

Trockenheit: Rauch steigt im Amazonas-Regenwald auf
MARIE HIPPENMEYER/AFP

Wie groß ist der Anteil der Schutzgebiete jetzt?

Thonicke: Momentan sind 15,7 Prozent der Landoberfläche und 7,9 Prozent der Ozeane geschützt. Die Zahlen steigen leicht, wenn man andere Schutzkategorien noch dazu nimmt. Bei den globalen Zahlen muss man aber beachten, dass hier alle Kategorien an Schutzgebieten der IUCN zusammengezählt wurden, also auch Naturparks und Landschaftsschutzgebiete. Umso größer ist also die Herausforderung, das 30-Prozent-Ziel bis 2030 zu erreichen.

Also mehr Wildnis für den Planeten Erde?

Thonicke: Der Begriff „Wildnis“ im Sinne von unberührter Natur ist schwierig, weil wir als Art schon seit Tausenden Jahren Spuren hinterlassen haben. Paläobotaniker haben zum Beispiel im Amazonas-Regenwald eine starke Dominanz von Frucht- und Nussbäumen festgestellt – auch das ist auf den Einfluss des Menschen zurückzuführen. In diesem Fall ist das allerdings eine Erfolgsstory, weil die Bewohner des Regenwaldes nachhaltig gewirtschaftet haben, in Harmonie mit der Natur. Ich würde eher so argumentieren: 47 Prozent der natürlichen Ökosysteme sind durch die menschliche Nutzung stark geschädigt oder in einem schlechten Zustand. Andererseits haben wir Kulturlandschaften geschaffen, die sehr artenreich sind – und die wir ebenfalls erhalten sollten. Man denke zum Beispiel an die artenreichen Alpenwiesen. Für die Biodiversität und den Kohlenstoffspeicher ist also beides wichtig, Schutzgebiete und Kulturlandschaften.

Wie weit müsste man den Anteil der gestressten Ökosysteme drücken, damit die Stabilität gesichert ist?

Thonicke: Das ist eine interessante Forschungsfrage. Ich würde sagen, so weit wie möglich. Klar ist aber auch: Wir brauchen die Naturressourcen, um Lebensmittel herzustellen oder für die Holzgewinnung. Da gilt es, einen guten Kompromiss zu finden. Das mit einer konkreten Zahl zu beziffern, halte ich für schwierig.

Kommen wir zu Ihrem Forschungsgebiet, dem Regenwald: Laut einer Studie haben Erderwärmung und Abholzung dazu geführt, dass Teile des Amazonas-Regenwaldes mittlerweile mehr CO2 abgeben, als sie aufnehmen. Wie bewerten Sie das?

Thonicke: Ich halte diese Studie für sehr wichtig, weil sie zeigt: Die Entwaldung führt auch in den angrenzenden Regionen zu einem Verlust von Biomasse und zu einer Degradierung des Waldes. Die betroffenen Flächen sind bedeutend größer als jene, wo abgeholzt wurde. Wir sehen starke Warnsignale im Ökosystem, es müssten die Alarmglocken schrillen. Bisher haben wir den Kipppunkt an der entwaldeten Fläche festgemacht, es könnte aber sein, dass der Regenwald viel früher sehr empfindlich reagiert.

„Degradierung des Waldes“ bedeutet was konkret?

Thonicke: Empfindliche Baumarten sterben ab, weil sie Hitze und Trockenheit nicht vertragen. Wenn man über solche Regionen fliegt, sieht man zwar noch Wald, aber es ist nicht mehr diese grüne, geschlossene Brokkoli-Fläche, die man vom intakten Wald kennt.

Lässt sich abschätzen, wie viel Abholzung der Amazonas-Regenwald vertragen könnte, ohne dass das System zu kippen beginnt?

Thonicke: Grob geschätzt wurden bisher 20 Prozent des Amazonas-Regenwaldes abgeholzt. Bei bis zu 25 Prozent hätte der Wald eine Chance, sich nach Dürren zu erholen. Bei 40 Prozent Entwaldung würde der Regen stark nachlassen. Womit auch die gegen Dürre empfindlichen Bäume absterben und entsprechende Mengen CO2 in die Atmosphäre freigeben würden. So gesehen ist es sehr wichtig, dass nun auch Brasilien das Abkommen der aktuellen Klimakonferenz unterzeichnet hat. Die Entwaldung soll demzufolge bis 2030 eingestellt werden – das muss man politisch unterstützen, aber auch sehr genau kontrollieren.