Vier Spritzen vor dem Schriftzug „Omicron“
AFP – JUSTIN TALLIS
AFP – JUSTIN TALLIS
Omikron

Prognose: Bevölkerung wird rasch durchseucht

Omikron schreibt die Spielregeln der Pandemiebekämpfung neu: Ein Eindämmen der bevorstehenden Infektionswelle ist kaum noch realistisch, bis zu 20 Prozent könnten sich infizieren, berichten die Modellrechner Peter Klimek und Stefan Thurner. Die Bevölkerung werde entweder langsamer durchseucht – oder ungebremst und sehr schnell.

Die Infektionen „durchlaufen zu lassen“ wäre aus ihrer Sicht „eine riskante Wette mit enorm hohem Einsatz“, wie die beiden Forscher vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) in einem “Policy Brief“ schreiben.

Im Ö1 Mittagsjournal plädierte Klimek für ambitionierte Ziele beim Impffortschritt – „z.B. 50 Prozent der Bevölkerung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu boostern“ – um damit Zeit zu gewinnen und mehr Wissen zu den Omikron-Krankheitsverläufen und möglichen Maßnahmen zu sammeln.

Schnell oder langsam?

Die Politik müsse der Bevölkerung klar kommunizieren, was auf sie zukommt und erklären, dass es nun vermehrt um die Eigenverantwortung jedes einzelnen gehe. Grundlage der Einschätzung ist eine Modellrechnung, laut der Omikron den Immunschutz der Bevölkerung deutlich reduziert: Während Impfung und Genesung noch über 70 Prozent gegen eine symptomatische Infektion durch die Delta-Variante geschützt haben, sind gegen Omikron nur noch 40 Prozent der Bevölkerung geschützt.

Die CSH-Forscher Peter Klimek und Stefan Thurner halten in dem „Policy Brief“ fest, dass das Zeitfenster, in dem man ein Eindämmen der sich gerade aufbauenden Omikron-Welle noch hätte versuchen können, bereits verstrichen ist.

„Somit bleibt wieder einmal nur die Frage, ob man die Durchseuchung langsam oder schnell geschehen lassen will. Die gewählte Strategie sollte von der Politik jedoch umgehend kommuniziert werden, damit sich die Bevölkerung darauf mit individuellen Schutzmaßnahmen vorbereiten kann, d.h. wie viel Zeit verbleibt, um sich etwa eine Booster-Impfung zu holen oder sich erstimmunisieren zu lassen“, heißt es in dem Dienstag veröffentlichten Papier.

Pandemie anders managen

Bisher verfolgte Österreich eine Strategie der Abflachung in der Pandemiebekämpfung. Dabei wurde das Infektionsgeschehen erst nachhaltig mit nicht-pharmazeutischen Maßnahmen (Lockdowns) gesenkt, als in den Spitälern definierte Kapazitätsgrenzen in den Intensivstationen erreicht wurden. Mit Omikron könnte der Fall eintreten, dass dieser Ansatz obsolet wird, da schon die Normalstationen überlastet und Kapazitätsgrenzen in kritischen Infrastrukturen früher erreicht werden könnten. Eine Neuausrichtung im Pandemiemanagement müsse daher angedacht werden, so die Wissenschaftler.

Zahl der Infektionen mit Omikron-Bestimmung KW 47-52
APA

Bis zu 20 Prozent könnten sich infizieren

Im Falle eines Durchlaufenlassens sei davon auszugehen, dass sich etwa zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung mit Omikron infizieren, bevor sich die Welle verlangsamt. In diesem Fall wäre mit Personalausfällen in dieser Größenordnung im Gesundheitssystem, aber auch in anderen kritischen Infrastrukturen zu rechnen. Für Klimek wäre diese Variante „eine riskante Wette mit unbekannter Wahrscheinlichkeit zu gewinnen und enorm hohem Einsatz.“

Im Falle des ungebremsten Durchlaufens wäre erst mit einer Verlangsamung der Dynamik zu rechnen, wenn etwa zehn Prozent der Bevölkerung infiziert wurden und weitere zehn Prozent in Quarantäne sind oder ihre Kontakte freiwillig reduzieren. In Österreich wären das bei knapp neun Millionen Einwohnern zwischen 900.000 und 1,8 Millionen Menschen.

Neue Probleme in den Krankenhäusern

Neben den Spitälern sollten sich daher auch alle anderen öffentlichen und privaten Unternehmen darauf einstellen, dass bis zu 20 Prozent des Personals durch Krankheit oder Quarantäne ausfallen könnten. Die Quarantäneregeln müssten daher dynamisch und antizyklisch an die Infektionsdynamik angepasst werden, um die Funktionalität kritischer Infrastrukturen sicherstellen zu können, also bei hohen Fallzahlen kürzere Quarantäne.

Ein Übertreffen des bisherigen Höchststandes an Covid-Spitalspatienten sei durchaus wahrscheinlich. In welchem Bereich diese Überlastung zuerst eintritt (Personal, Normalpflege, Intensivpflege), sei aber nicht klar. Berichten aus Großbritannien zufolge seien dort etwa ein Drittel der Spitalsaufenthalte nicht „wegen“ sondern „mit“ Covid-19, d.h. die Patientinnen und Patienten werden eigentlich aus einem anderen Grund als Covid behandelt und wurden zufällig positiv getestet oder steckten sich im Spital an. Dieser Umstand führt zu zusätzlichen Ressourcenproblemen, warnen die Experten.

Impfung bleibt wichtiges Instrument

„Zusammenfassend zwingt uns Omikron, unseren Zugang in der Pandemiebekämpfung zu überdenken. Betrüblicherweise besteht dafür kaum noch Zeit. Da ein Verhindern der Welle täglich unwahrscheinlicher wird, sollte in der Bevölkerung baldmöglichst Klarheit in dieser Frage geschaffen werden, um die Gelegenheit zu geben, sich eigenverantwortlich zu schützen“, schreiben die Wissenschaftler.

Die Impfung bleibt dabei das wesentlichste Instrument, auch wenn sie zunehmend so verstanden werden muss, dass sie einen länger dauernden Schutz vor schwerer Erkrankung und nur einen kurzfristigen Schutz vor symptomatischer Infektion bietet.

Kürzlich veröffentlichte Daten aus Großbritannien zeigen, dass die Schutzwirkung einer dritten Dosis vor einer Infektion mit Omikron nach zehn Wochen von über 70 auf 40 Prozent zurückgeht. Die Impfung bleibe trotzdem eine der wesentlichen Maßnahmen. Es werde aber zunehmend deutlicher, dass die Impfung langfristigeren Schutz vor schwerer Erkrankung bietet, aber nur einen kurzfristigen Schutz vor symptomatischer Infektion.

Ein dauerhaftes Eindämmen der Pandemie mit Hilfe der Impfung werde damit schwerer und schwerer erreichbar. „Dauerhafte Auffrischungsimpfungen in entwickelten Ländern unterlaufen auch zu einem gewissen Grad Bemühungen, das globale Ungleichgewicht in der Verteilung der Impfstoffe zu bekämpfen“, heißt es weiter in dem Schreiben.