Zuschauermassen im Zielraum von Adelboden, Maske wurde allerdings selten getragen
Reuters/Denis Balibouse
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Coronavirus

Was die Schweiz anders macht

Während in Österreich eine Impfpflicht beschlossen wurde und die Debatte immer noch hitzig ist, sieht die Lage bei unseren Nachbarn bereits anders aus. Die Schweiz hat seit Wochen deutlich höhere Fallzahlen – eine Verschärfung der Maßnahmen wird dort aber wenig diskutiert. Im Gegenteil: Man bereite sich gerade auf die endemische Phase vor, so Marcel Salathé, einer der bekanntesten Epidemiologen des Landes.

„Es erstaunt mich, dass wir so gut durchkommen,“ so Marcel Salathé von der Universität EPFL in Lausanne gegenüber science.ORF.at. In den USA beispielsweise sehe man bei der Omikron-Welle eine deutlich höhere Belastung der Spitäler. Das Problem in der Schweiz sei derzeit eher, dass das Personal im Krankenhaus ausfällt, als dass das System zu viele Patienten hätte.

Euphorische Stimmung

Die derzeitige Stimmung sei deshalb überraschend optimistisch, fast schon „euphorisch“, so Salathé. In einer Pressekonferenz vergangene Woche etwa sprach das Schweizer Gesundheitsamt BAG von weniger schlimmen Ausmaßen als angenommen. Eine große Hospitalisierungswelle blieb trotz der anhaltend hohen Fallzahlen von rund 30.000 bis 40.000 Neuinfektionen pro Tag bisher aus, teilte das Amt mit. Auch die Intensivstationen würden sich derzeit durch die wieder abflauenden Delta-Fälle eher leeren als füllen. Man stelle sich nun bereits auf die endemische Phase vor, also ein Leben mit dem Virus – ähnlich wie bei der Grippe. Auch Großbritannien und Spanien haben diesen Schritt bereits angekündigt.

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Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 26.1., 13:55 Uhr.

Ob man in der Schweiz aber bereits über den Berg sei, wisse man noch nicht, so Salathé. Die Fallzahlen stabilisieren sich gerade auf hohem Niveau. Derzeit verzeichnet man tägliche Neuinfektionszahlen, die deutlich höher sind wie jene von Österreich. Laut dem Covid-19-Dashboard der Johns Hopkins University gab es in den vergangenen 28 Tagen in der Schweiz 726.000 Neuinfektionen, in Österreich 382.000 – also fast das Doppelte. Bereits seit Anfang Jänner schwankten die Zahlen um 30.000 Neuinfektionen pro Tag. Erst in den nächsten Wochen rechne man damit, dass die Zahlen wieder nach unten gehen könnten. „Niemand will das Wort ‚Durchseuchung‘ in den Mund nehmen, aber eigentlich ist es schon so, dass man es gerade jedem einzelnen überlässt und das Virus mit gewissen Restriktionen laufen lässt“, sagt Salathé.

Ähnliche Strategie wie Großbritannien

Am ehesten könne man die Strategie der Schweiz derzeit mit jener von Großbritannien vergleichen. Schweden ist dem Epidemiologen als Vergleich zu harsch. „Dort sind die Maßnahmen außer bei Events teils ja ganz zurückgeschraubt worden.“ Das habe man in der Schweiz zwar auch diskutiert, allerdings bisher nicht durchgezogen. Derzeit gilt eine 2-G-Regel in Restaurants, Bars und Clubs. Ähnliche wie in Österreich gibt es eine Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Gebäuden, sowie eine Homeoffice-Pflicht.

Besonders groß ist der Unterschied der Maßnahmen bei den Regelungen zu Veranstaltungen. Während es in Österreich kaum Großveranstaltungen gibt – beim Schladminger Nightrace etwa waren 1.000 Zuseher zugelassen -, waren in der Schweiz vergangene Woche fast 20.000 Zuseher beim Skirennen auf der Lauberhorn-Piste in Wengen dabei. Teils ohne Maske. Auch Sperrstunden gibt es in der Schweiz keine. Impfpflicht oder ein Lockdown für Ungeimpfte stehen derzeit ebenso nicht zur Diskussion.

Fans mit Schweizer Fahnen beim Slalom in Wengen
APA/KEYSTONE/MARCEL BIERI
Schweizer Skifans beim Slalom in Wengen

Dass der Kurs der Schweiz laxer ist, sei aber nicht erst seit der Omikron-Welle so. Die Maßnahmen seien bereits seit Beginn der Pandemie milder gewesen: „Einen wirklichen Lockdown, den gab es in der Schweiz beispielsweise eigentlich nie,“ so Salathé.

Das liege auch am politischen System der Schweiz, sagt er. „Wir haben im November eine Volksabstimmung über ein Covid-Maßnahmenpaket gehabt,“ davor wären auch in der Schweiz immer wieder die Wogen hochgegangen. Seitdem die Maßnahmen nun aber direktdemokratisch legitimiert sind, sehe man die Pandemie in der Schweiz entspannter.

“Wissen zu wenig“

Auffällig ist, dass die Schweiz bei ähnlichen Bevölkerungszahlen niedrigere Todeszahlen als Österreich hat. Während die Schweiz derzeit bei rund 12.200 Todesfällen durch Covid-19 liegt, sind es in Österreich 13.500. Und das bei durchgehend strengeren Maßnahmen als in der Schweiz. Auch die Wirtschaft erholt sich wegen der geringeren Maßnahmen in der Schweiz laut Berechnungen besser.

Warum sie so gut durch die Pandemie komme, ist auch Salathé ein Rätsel. „Wir wissen hier einfach noch viel zu wenig.“ Es liege sicher auch am guten Gesundheitssystem der Schweiz, welches eines der teuersten der Welt wäre. Auch würden die Menschen in der Schweiz generell einen gesunden Lebensstil haben, was zu weniger schweren Verläufen führe.

Es könne aber auch nur so wirken, als stehe die Schweiz besser dar. Die absoluten Todeszahlen könne man nur schwer miteinander vergleichen, da gäbe es zwischen Ländern immer wieder andere Definitionen. Auch würde das Meldesystem in der Schweiz Fälle oft erst verzögert eintragen. „Wir haben in der Schweiz letztes Jahr doch eine deutliche Übersterblichkeit verzeichnet,“ so der Experte. Die jetzige optimistische Lage komme aber auch von der milderen Omikron-Variante.

Hohe Dunkelziffer

Was die Strategie der Schweiz nun langfristig bedeute, kann Salathé noch nicht abschätzen. Die Fallzahlen dürften jedenfalls deutlich über der offiziellen Statistik liegen, so der Experte, denn die Positivitätsrate der Tests läge derzeit mit fast 40 Prozent äußerst hoch. „Das heißt, wir haben sicher eine sehr hohe Dunkelziffer bei den Fallzahlen. Derzeit gehen wir von zwei- bis dreimal so hohen Zahlen aus, wenn nicht mehr.“

In Wirklichkeit könnte sich also bereits ein großer Teil der Bevölkerung mit dem Virus infiziert haben. Das Schweizer Gesundheitsamt gab Mitte Jänner bekannt, dass bereits bis zu 90 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer einen Immunschutz aufweisen.

Kritiker der Covid-19-Maßnahmen nach dem Referendum am 28. November 2021 vor dem Schweizer Parlament in Bern
AFP – FABRICE COFFRINI
Kritiker der Covid-19-Maßnahmen nach dem Referendum am 28. November 2021 vor dem Schweizer Parlament in Bern

Ansteckung auf lange Sicht nicht zu verhindern

Die Frage sei, wie man nun mit der Situation umgehe, so Salathé. „Viele Geimpfte und Genesene haben eine so geringe Viruslast, dass auch der Selbsttest nichts mehr anzeigt.“ Auch müsse man sich fragen, ob man es auf lange Frist verhindern könne, sich mit dem Virus anzustecken. „Und ich glaube da ist die Antwort einfach: Nein.“

Das Virus sei nach den Mutationen mittlerweile fast so ansteckend wie Masern, so der Epidemiologe, „und Masern ist so ziemlich das ansteckendste Virus, das die Menschheit kennt.“ Sich nicht damit anzustecken, das sei einfach nicht mehr denkbar, wenn man ein normales Sozialleben führen möchte.

Offene Frage „Long Covid“

Die Strategie würde zwar sicherlich zu höheren „Long-Covid“-Zahlen führen, „aber da bewegt man sich derzeit hierzulande noch im Blindflug“. Großbritannien sei hier mit gutem Beispiel voran gegangen und hätte hier bereits sehr früh die nötigen Anlaufstellen, Kliniken und Register dafür geschaffen. Die Schweizer Bundesregierung hatte sich kürzlich erst gegen so ein Register ausgesprochen. Vorsichtig optimistisch lassen ihn hier aber neueste Daten aus Israel und Großbritannien. Diese würden zeigen, dass „Long Covid“ bei Geimpften deutlich seltener vorkäme.

Auf lange Sicht müsse man sich nun überlegen, wie man mit dem Virus umgehe. „Das Hospitalisierungssystem ist in den meisten Ländern genau darauf eingestellt, auch einmal eine große Grippewelle zu überstehen,“ so Salathé. Jetzt würden zu den Grippewellen zusätzlich noch jährliche Coronawellen dazu kommen. Und diese würden laut seiner Einschätzung nicht viel milder ausfallen, als die jetzige Omikron-Welle. Jetzt müsse man darüber nachdenken, das System anzupassen. Manche würden bereits darüber nachdenken, künftig vielleicht „einen Stock“ mehr pro Krankenhaus in der Saison mit einzurechnen.