Eine Frau reibt sich den Kopf, weil sie Kopfweh hat
pict rider – stock.adobe.com
pict rider – stock.adobe.com
Coronavirus

Seltene Fälle: Impfung könnte Long Covid auslösen

Die CoV-Impfstoffe schützen sehr gut vor schweren Krankheitsverläufen, im Allgemeinen auch vor Long Covid. In seltenen Fällen könnten sie aber auch zum Gegenteil beitragen – zu Long-Covid-ähnlichen Symptomen wie Erschöpfung, Konzentrationsschwäche und Schlaflosigkeit.

Offizielle Zahlen zu dem Phänomen gibt es keine, nur anekdotische Berichte. Etwa von Irmgard P., die gegenüber science.ORF.at von einer CoV-Infektion im März 2021 erzählt, an der sie sechs Wochen lang laborierte. „Davon habe ich mich vollständig erholt. Eine Woche nach einer CoV-Impfung im Juni 2021 bekam ich aber eine Reihe von Symptomen – erhöhter Puls, Übelkeit, Erschöpfung, Kopfschmerzen und geringe Belastbarkeit.“ Ähnliches habe sich nach der zweiten Impfung Ende Dezember wiederholt.

Von ihren Hausärzten in Niederösterreich habe sie sich nicht gut unterstützt gefühlt, erzählt sie. Medikamente zur Behandlung habe sie selbst via Internet recherchiert und den Ärzten vorgeschlagen. Auf einer Selbsthilfeplattform sei sie dann auf Gleichgesinnte gestoßen – und auf eine mögliche wissenschaftliche Erklärung. Bestimmte Autoantikörper – also gegen den eigenen Körper gerichtete Antikörper – sollen demnach für die Entwicklung der Symptome verantwortlich sein.

Herzmedikament gegen Autoantikörper

Tatsächlich hat ein Team der Universität Erlangen im Sommer 2021 sogenannte funktionelle Autoantikörper im Blut von Long-Covid-Patienten entdeckt – und ein Mittel vorgestellt, das in einem dokumentierten Fall die Symptome verschwinden ließ. Das eigentlich als Herzmedikament entwickelte und an James Bond erinnernde „BC 007“ soll Long Covid heilbar machen – das ist zumindest die Marketingansage der Berliner Firma “Berlin Cures“, die das Mittel erforscht.

Dass Long-Covid-Symptome auch durch eine CoV-Impfung ausgelöst werden können, wie von der Selbsthilfeplattform behauptet, bestätigt der Molekularbiologe Gerd Wallukat von „Berlin Cures“ nicht. Viele Menschen, die glauben, nach einer Impfung Long-Covid-artige Symptome zu entwickeln, würden der Firma Blutproben schicken, erzählt er gegenüber science.ORF.at. „Bei den allermeisten können wir aber keine Autoantikörper entdecken. Wir teilen deshalb die Interpretation der Selbsthilfeplattform nicht“, sagt Wallukat.

Eine müde Coronavirus-Patientin
AFP – PIERRE-PHILIPPE MARCOU

Einzelne Fälle in Tirol

Was aber nicht heißt, dass es in seltenen Fällen dennoch einen Zusammenhang geben könnte. Auch an der Medizinuni Innsbruck gibt es Patientinnen und Patienten, die nach einer CoV-Impfung von Long-Covid-ähnlichen Symptomen oder einer vorübergehenden Verschlechterung von Long Covid berichten. „Bis jetzt waren es nur eine Handvoll", sagt die Lungenfachärztin und Long-Covid-Spezialistin Judith Löffler-Ragg von der Medizinischen Universität Innsbruck gegenüber science.ORF.at.

„Manche fragen auch nach ‚BC 007‘, weil sie davon aus den Medien erfahren haben. Das Konzept von Wallukat und seinem Team steckt aber noch in den Kinderschuhen. Da dürfen wir Long-Covid-Patienten und -Patientinnen keine falschen Hoffnungen gemacht werden.“

Ursachen weiterhin unklar

Prinzipiell seien die Impfungen nach wie vor das beste Mittel der Pandemiebekämpfung und gut verträglich. Geimpfte seien auch besser vor Long Covid geschützt als Ungeimpfte, betont Löffler-Ragg und verweist auf aktuelle Studien. Long-Covid-Patienten können sogar eine Besserung durch die Impfung erfahren, wobei hier umfassende Daten einer US-Studie noch ausständig sind. Vieles im Zusammenhang mit Long Covid sei aber nach wie vor unklar – allen voran die Ursache der unspezifischen Symptome.

Generell vermutet Löffler-Ragg dahinter eine anhaltende Immundysregulation, also eine fehlerhafte Immunreaktion. Einige Kandidaten zur weiteren Beforschung sind Beta-Interferone, Immunoglobuline, Mini-Blutgerinnsel – und die oben erwähnten Autoantikörper. „Aber insgesamt wissen wir es nicht“, betont Löffler-Ragg, „und deshalb können wir auch keine gezielte Therapie anbieten.“

Ein Mann sitzt vorne übergebeugt und müde an einem Tisch
Getty Images/fStop/Halfdark

Zeitliche Zusammenhänge …

Mit ihren Kolleginnen und Kollegen an der Medizinuni Innsbruck ist sie diesen Fragen auf der Spur – so wie Tausende andere Forscherinnen und Forscher rund um die Welt. Einer davon ist der Neuroimmunologe Avindra Nath. Im Fachmagazin „Science“ sprach er von „zeitlichen Zusammenhängen“ zwischen einer Impfung und Long-Covid-Symptomen.

Aber ein „ursächlicher Zusammenhang“? „Ich weiß es nicht“, so der klinische Direktor des Instituts für Neurologische Krankheiten der US-Gesundheitsbehörde NIH. Studien von Nath zu rund 30 Fallbeispielen blieben bisher ohne Veröffentlichung, demnächst soll eine erfolgen.

… aber auch kausale?

Auch der „Science“-Artikel geht der Rolle von Autoantikörpern nach – deren Wichtigkeit nicht nur bei einer akuten CoV-Infektion erkannt werde, sondern auch bei Long Covid. Autoantikörper könnten bis zu einem halben Jahr nach der Ansteckung nachgewiesen werden, heißt es in einer aktuellen Studie. Und sie könnten Gehirngewebe schädigen, wie der Neurologe Harald Prüss von der Berliner Charité in einer noch unveröffentlichten Arbeit berichtet.

„Autoantikörper lassen sich bei vielen Erkrankungen beobachten“, kommentiert Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Akademie der Wissenschaften gegenüber science.ORF.at. „Inwieweit sie aber maßgeblich in die Krankheitsgeschehen eingreifen und nicht nur einfach Epiphänomene darstellen, bleibt oft fraglich.“ Bergthaler zeigt sich „vorsichtig bei der Zuschreibung von kausalen pathogenen Effekten für Autoantikörper“, möchte und kann sie aber nicht ausschließen.

Alle Beschwerden entweder Covid oder Impfung

Der „Science“-Artikel deutet an, dass Nebenwirkungen von den US-Behörden nicht aufmerksam genug untersucht werden. Ein Vorwurf, dem die Long-Covid-Spezialistin Judith Löffler-Ragg für die Medizinuni Innsbruck energisch widerspricht. „Wir sind Kliniker – wir schauen uns jede Form von anhaltenden Beschwerden systematisch an.“ Zwei Jahre Pandemie hätten aber zu einer besonderen Situation geführt.

„Alle möglichen Beschwerden werden von Betroffenen als Folge einer Omipräsenz dieses Themas nur noch mit Covid oder Impfung verbunden", so Löffler-Ragg. "Beschwerden können aber viele andere Ursachen haben. Das gehört abgeklärt, und wenn das geschehen ist, und Unklarheiten verbleiben, melden wir Verdachtsfälle auch den Behörden.“

Irmgard P. fühlt sich vom Gesundheitssystem derweil eher im Stich gelassen. „Wenn ich mich nicht selbst auf die Beine stelle und im Internet recherchiere, kann ich nur zuhause herumsitzen und abwarten“. Sie würde sich spezielle Ambulanzen für Menschen mit Long Covid und Long-Covid-ähnlichen Symptomen wünschen, die vernetzt sind und ihr Wissen untereinander teilen.