Michel Roccati steht und geht in Lausanne
NeuroRestore – Jimmy Ravier
NeuroRestore – Jimmy Ravier
Neue Therapie

Gelähmte können wieder gehen

Nach relativ kurzem Training wieder gehen, schwimmen und radfahren können: Das ist drei Querschnittgelähmten dank einer neuen, experimentellen Therapie gelungen. Sie ist aber nur für einen bestimmten Teil Betroffener geeignet.

Bei der Therapie gibt eine implantierte Folie mit 16 Elektroden kleine elektrische Impulse an Nervenbahnen ab, die zu motorischen Neuronen in der Wirbelsäule führen. Die Patienten konnten bereits am ersten Tag nach der Aktivierung der Elektroden erste Schritte auf einem Laufband machen.

Jocelyne Bloch und Grégoire Courtine von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) in Lausanne (Schweiz) und ihr Team stellen ihre Ergebnisse im Fachmagazin „Nature Medicine“ vor. An der Studie wirkte auch Karen Minassian vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien mit.

Kommt aus der Schmerztherapie

Die Methode der Rückenmarkstimulation durch elektrische Impulse wird seit Längerem in der Behandlung von chronischen Schmerzen angewendet. Bloch und Courtine haben vor einigen Jahren erkannt, dass eine solche Stimulation auch Querschnittgelähmten helfen kann, einen Teil der Beweglichkeit ihrer Beine wiederzuerlangen. Dass dies grundsätzlich funktioniert, haben sie bereits 2018 an Patienten gezeigt, die ihre Beine oder Füße noch minimal bewegen konnten. Jetzt konnten sie ihre Methode verbessern und an Patienten ohne Restbeweglichkeit erfolgreich testen.

„Unser Durchbruch sind hier die längeren und breiteren implantierten Elektrodenarrays, bei denen die Elektroden so angeordnet sind, dass sie genau den Spinalnervenwurzeln entsprechen“, wird Bloch in einer EPFL-Mitteilung zitiert. Dies gebe den Medizinern eine präzise Kontrolle über die Neuronen, die bestimmte Muskeln regulieren. Um dieses Elektrodenarray zu entwickeln, analysierten Bloch, Courtine und Kollegen 27 Wirbelsäulen und erstellten Computermodelle. Sie stellten fest, dass die Lage der Nervenbahnen, die zu den motorischen Zentren im Rückenmark führen, sich von Mensch zu Mensch unterscheidet.

Steuerung via Tablet

Schließlich fanden sie ein Arrangement der 16 Elektroden, mit dem erheblich besser als bisher die entscheidenden Nervenbahnen für jede Art der Bewegung durch elektrische Impulse erreicht werden können. Die Elektroden auf der Folie sind mit einem Impulsgeber verbunden, der wiederum drahtlos über einen Tabletcomputer angesteuert werden kann.

„Die Patienten können die gewünschte Aktivität auf dem Tablet auswählen und die entsprechenden Protokolle werden an den Schrittmacher im Bauchraum weitergeleitet“, sagt Courtine. Dabei werde das Rückenmark aktiviert, wie es das Gehirn natürlicherweise tun würde. Neben dem Stehen und Gehen sollen so etwa auch Schwimmen und Liegerad fahren möglich sein.

Patient: „Traum wurde wahr“

„Die ersten Schritte waren unglaublich – ein Traum wurde wahr!“, berichtet Michel Roccati, ein Italiener, der nach einem Motorradunfall querschnittgelähmt war. Nach monatelangem Training kann er jetzt mit einem Rollator 500 Meter am Stück laufen und Treppen hoch- und heruntersteigen.

Michel Roccati steht und geht in Lausanne
EPFL / Alain Herzog 2021
Michel Roccati in Lausanne

Zwei weitere Patienten haben in noch laufenden klinischen Versuchen ebenfalls einen Teil der Beweglichkeit ihrer Beine und ihres Rumpfes wiedererlangt, sie können jedoch keine Treppen bewältigen. Für jeden von ihnen haben die Forscher ein individuelles Programm zur Nervenstimulation geschrieben.

Für viele Betroffene keine Lösung

Trotz der aktuellen Therapieerfolge sieht der an der Studie nicht beteiligte Mediziner Winfried Mayr vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Meduni Wien „leider keine baldige Lösung für alle von Querschnittlähmung Betroffenen“.

Die drei Patienten hätten „mit Sicherheit besonders günstige Voraussetzungen, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle fehlen“, so Mayr gegenüber dem Science Media Center. „Im Wesentlichen muss ein geeigneter Teil der willentlichen Bewegungssteuerung durch die Verletzungsstelle hindurch erhalten geblieben sein.“ Für den Großteil der Betroffenen seien daher die vorgestellten Ergebnisse „nicht im beschriebenen Ausmaß erreichbar“.

„Das soll das solide wissenschaftliche Ergebnis nicht schmälern", sagt Mayr, es sollten aber keine Erwartungen geweckt werden, "die bis auf weiteres nicht erfüllbar sein werden.“

Üben im Labor
NeuroRestore – Jimmy Ravier
Übungsschritte im Labor

„Die Forschungsergebnisse sind beeindruckend“, so die Einschätzung von Norbert Weidner vom Universitätsklinikum Heidelberg. Dennoch ist auch er skeptisch, dass die Therapie in absehbarer Zeit im klinischen Alltag angewendet werden kann. Aus der Studie gehe beispielsweise nicht hervor, wie die drei Patienten ausgewählt wurden. Deshalb ist es für Weidner fraglich, ob die Ergebnisse auf größere Patientengruppen übertragen werden könnten. Andererseits könne die Technologie in den kommenden Jahren weiterentwickelt werden.