Ausgrabungen in der Grotte Mandrin
Ludovic Slimak
Ludovic Slimak
Anthropologie

Beziehungswirrwarr in der Höhlen-WG

Ausgrabungen in einer Höhle in Südfrankreich rütteln die Besiedlungsgeschichte Europas durcheinander: Zum einen scheinen die modernen Menschen bereits vor 54.000 auf dem Kontinent gelebt zu haben – fast 10.000 Jahre früher als gedacht. Zum anderen gaben sie sich mit den Neandertalern offenbar mehrmals „die Türklinke in die Hand“.

Davon berichtet ein Team um Ludovic Slimak von der Universität Toulouse in einer Studie, die soeben im Fachjournal „Science Advances“ erschienen ist.

Eine außergewöhnliche Schicht

Die Forscherinnen und Forscher analysierten die Besiedlungsspuren der Grotte Mandrin, einer Halbhöhle im Rhonetal im südlichen Frankreich. Die Datierung der Fundstücke, die Zahnreste und Steinwerkzeuge umfassten, leitete Tom Higham vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien.

Dabei zeigte sich, dass es eine Art Ausreißer in den geschichteten Überbleibseln gab. Die Funde in der „Schicht E“ in der Grotte Mandrin hielten nämlich eine Überraschung bereit, die den bisherigen Annahmen über die Ablöse des Neandertalers als vorherrschende Hominiden-Spezies in Westeuropa widerspricht.

Ludovic Slimak von der Universität Toulouse
Laure Metz
Ludovic Slimak

Bis auf wenige Hinweise in Griechenland, die nicht in das Bild passen, nimmt die Wissenschaft nämlich an, dass die modernen Menschen Europa erst in der Zeit zwischen 43.000 und 45.000 Jahren erreicht haben. In der Folge dürfte dann eine Kombination aus der Anwesenheit von Homo sapiens und veränderten Umweltbedingungen zum Verschwinden der Neandertaler geführt haben.

Die letzten Hinweise auf sie verlieren sich nämlich in der Zeit vor rund 40.000 Jahren. Das formte die Ansicht unter den meisten Forscherinnen und Forschern, dass die Ankunft des offensichtlich im für ihn neuen Lebensraum Europa erfolgreicheren modernen Menschen mehr oder weniger direkt ins Verschwinden des Neandertalers gemündet hat.

10.000 Jahre früher als bisher angenommen

Die neuen Analysen aus der französischen Höhle geben aber starke Hinweise darauf, dass der Prozess komplexer gewesen sei dürfte, denn besagte „Schicht E“ enthielt Beweise für eine Anwesenheit von Homo sapiens – eingebettet zwischen Schichten, die eindeutig auf Neandertaler zurückzuführen waren.

Die Schicht mit den Artefakten moderner Menschen datierten die Wissenschaftler nun mit modernsten Methoden auf die Zeit zwischen 56.800 und 51.700 Jahren. Das wahrscheinlichste Alter von 54.000 Jahren macht sie zu den ältesten Nachweisen von Homo sapiens in Europa überhaupt. Immerhin 10.000 bis 12.000 Jahre jünger sind die ältesten zuvor gefundenen Überbleibsel in Westeuropa, heißt es in einer gemeinsamen Aussendung der Hauptautoren der Studie.

Einige der entdeckten Steinwerkzeuge
Laure Metz und Ludovic Slimak
Einige der entdeckten Steinwerkzeuge

In dieser besonderen Schicht dominieren auch Steinwerkzeuge, die feiner gearbeitet sind als in den Ablagerungen davor und danach (siehe Bild). Es gebe überdies Hinweise auf Spitzen für Pfeil und Bogen – eine Technologie, die man bei Neandertalern nicht vermutet hatte. Letztlich stützt ein Zahn eines modernen Menschen in dieser Schicht die Idee, dass die Werkzeuge nicht von Neandertalern stammen.

Nur 40 Jahre in der „Neandertalerhöhle“

Laut den Wissenschaftlern ist davon auszugehen, dass moderne Menschen die Höhle vermutlich nur über rund 40 Jahre hinweg als Stützpunkt nutzten, von dem aus sie die Umgebung erkundeten. Davor und danach war der Ort wieder von Neandertalern bewohnt. Die nächsten Hinweise auf Homo sapiens finden sich dort auch erst wieder rund 10.000 Jahre später – also zu einem viel eher erwarteten Zeitpunkt.

Die kurze Epoche vor ungefähr 54.000 Jahren mit den so anders gearbeiteten Steinartefakten zeige auch, dass es damals bereits einen Technologieaustausch mit dem Nahen Osten gegeben haben muss. Die Werkzeuge ähneln nämlich Stücken, die im heutigen Libanon gefunden wurden.

Ausgrabungen in der Grotte Mandrin
Ludovic Slimak
Die Grotte Mandrin in Südfrankreich

Mehrere Besiedlungswellen

All das ändere die Vorstellungen von der Besiedelung des Kontinents fundamental, so die Forscherinnen und Forscher. Es werde klar, „dass der Homo sapiens nicht einfach den Kontinent betreten hat, und dann den Neandertaler so rasch verdrängt hat wie ursprünglich geglaubt. Das sagt uns auch, dass die Idee unserer sofortigen Überlegenheit nicht zutreffen dürfte“, so Higham. Es scheint also eher mehrere Besiedelungswellen gegeben zu haben. Laut Studie waren es mindestens vier Phasen, in denen Neandertaler und moderne Menschen die Grotte Mandrin abwechselnd besiedelten.

Ergo hätte sich die Ablöse des Neandertalers über mehr als 10.000 Jahre erstreckt, in denen die Gruppen in relativer Nähe zueinanderstanden. Für eine Übertragung von kulturellen Errungenschaften zwischen den damaligen Menschen fanden sich in der südfranzösischen Höhle jedoch keine Hinweise. Die Gruppen dürften sich tatsächlich eher ohne viel Interaktion die Klinke in die Hand gegeben haben.