Eine Frau schaut nachdenklich auf einen Monitor, E-Book
APA/dpa-Zentralbild/Jens BŸttner
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Lockerungsdebatte

Die Tücken der Risikoeinschätzung

Die Lockerungsdebatte nimmt Fahrt auf. Sobald Regeln fallen, muss jeder und jede selbst entscheiden, wie er oder sie mit dem Infektionsrisiko umgeht. Risiken einzuschätzen birgt aber eine Reihe von Tücken, wie Forscher erklären.

Seit Beginn der Coronavirus-Pandemie zeigt sich wie unter einer Lupe, dass unser Umgang mit Risiken nicht immer rational ist. Und das liegt nicht nur am Kopf, sondern vor allem am Bauch, wie die deutschen Risikoforscher Ortwin Renn und Gerd Gigerenzer erklären. Sie beschreiben, wieso wir uns so schwer tun, Risiken richtig zu bewerten und was man tun kann, um das zu verbessern.

“Risikomündigkeit“ in Skandinavien

Wenn die Politik jetzt über ein Ende der Coronavirus-Maßnahmen diskutiert, ist das durchaus von Bedeutung. Der Gestaltungsspielraum für Bürgerinnen und Bürger wächst, wenn sie die Zügel lockert. Trage ich freiwillig eine Maske? Wie viele Leute lade ich zu meiner Party ein und frage ich, ob sie geimpft sind? Kurz: Sind wir bereit für mehr „Risikomündigkeit“? Diesen Begriff prägte Renn in seinem Buch „Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten“ lange vor Corona.

Heute sagt der wissenschaftliche Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung in Potsdam: „Ich finde schon, dass man in vielen Dingen dem Bürger auch mehr Urteilskraft zumuten kann und zutrauen darf.“ In den skandinavischen Ländern habe man ja von Anfang an stärker auf Risikomündigkeit gesetzt. „Das Problem ist: Wenn man eine hohe Mortalitätsrate hat, reichen ein paar Prozent, die nicht risikomündig sind, um den Rest anzustecken.“

Daher fand Renn es in der ersten Welle richtig, strenge Vorschriften zu machen. Inzwischen sind aus seiner Sicht ausreichend Vorsichtsmaßnahmen getroffen worden, dass der Einzelne Risiken besser abwägen kann. Es bleibe aber eine Gratwanderung: „Die Bevölkerung ist halt keine homogene Masse.“

Beispiel Thrombosen: “Analphabetentum bei Zahlen"

Gigerenzer, Autor des Buchs „Risiko – wie man die richtigen Entscheidungen trifft“, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und Leiter des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, gibt dagegen ein harsches Urteil ab: „Die Menschen haben nicht gelernt, Risiken richtig einzuschätzen.“ Er diagnostiziert „ein Analphabetentum in Bezug auf Zahlen“ und schließt dabei Forscher, Journalisten und Politiker ein.

Um Risiken richtig einzuschätzen, dürfe man nie auf absolute Zahlen schauen, sondern nur auf deren Relation. „Als bei Astrazeneca das Risiko von Thrombosen bekannt wurde, dachten sich manche: Ich geh auf Nummer sicher und lasse mich nicht impfen. Was dabei nicht bedacht wurde war, dass sich dadurch das Risiko, auf einer Intensivstation zu versterben, massiv erhöhte. Wenn ich also ein Risiko vermeide, kann ich damit ein viel größeres eingehen.“

Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit

Hier spiele auch die falsche Erwartung eine Rolle, Impfungen müssten eine Infektion zu 100 Prozent verhindern. „Die Illusion der Gewissheit ist fatal“, sagt Gigerenzer, 100-prozentige Sicherheit gebe es nirgends. Dass Menschen das erwarten, liege auch an der aus seiner Sicht mangelhaften „Risikokommunikation“ der Regierung. „Richtig wäre es, zu sagen: Das wissen wir. Das wissen wir nicht. Das machen wir, um mehr zu erfahren. Und das sollten Sie bis dahin tun. Man muss die Unsicherheit mitkommunizieren. Dann haben die Menschen mehr Vertrauen in die Urteile der Entscheider.“

Unter- und Überschätzung der Gefahren

Generell tendierten Menschen dazu, manche Gefahren zu über- und andere zu unterschätzen, erklärt Renn im „Risikoparadox“: Überschätzt werden Gefahren, die der Einzelne nicht in der Hand hat, die statistisch selten sind, aber katastrophale Folgen haben – etwa Flugzeugabstürze oder Naturkatastrophen. Unterschätzt werden Gefahren, deren Folgen erst später eintreten – wie Rauchen – oder „systemische“ Risiken, deren Ursachen komplex sind – wie die Klimaerwärmung. „In der Corona-Pandemie ist beides der Fall, das macht die Sache kompliziert“, sagt Renn.

Die „Sicherheit“ der Verschwörungstheorien

Er hat klassische „Urteilsfallen“ identifiziert, die uns beim Einschätzen von Risiken in die Irre leiten. Eine Falle ist unsere Intuition. Beispiel Inzidenzkurve: Dass die Zahl der Infektionen erst langsam nach oben geht und dann immer stärker steigt, die sogenannte Exponentialkurve, „das widerspricht unserer Intuition“. Oder die Erfahrung, dass auch dreifach Geimpfte sich mit Omikron anstecken können, während der eine oder andere Nicht-Geimpfte Glück hat und es nicht kriegt, „das ist etwas, was schwer zu begreifen ist.“

Hier liegt auch der Reiz der Verschwörungsmythen, glaubt Renn. Eines der großen Versprechen solcher Konstrukte ist, "dass sie absolute Sicherheit bieten. So abstrus das auch sein mag: Es ist eine Erklärung für alles. Alles was passiert, kann ich eins zu eins da einbauen, weil es eben ein Fantasieprodukt ist. Der Stress, der durch die Unsicherheit ausgelöst wird, ist dann weg.