Tasmanischer Teufel
AP Photo/Rob Griffith
AP Photo/Rob Griffith
Biodiversität

Arten sterben zweimal aus

Wenn Arten nicht nur ausgestorben sind, sondern auch aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen verschwinden, sterben sie zum zweiten Mal aus. Manche Arten werden sogar vergessen, noch bevor sie biologisch ausgestorben sind – und das kann schwerwiegende Folgen haben, wie eine Studie zeigt.

„Arten sterben zweimal aus: Einmal, wenn das letzte Individuum aufhört zu atmen, und ein zweites Mal, wenn die kollektive Erinnerung an die Art verschwindet“ – dieses Zitat wird sowohl dem Psychoanalytiker Irvin Yalom als auch dem Streetartkünstler Banksy zugeschrieben. Das zweite Aussterben, also das Vergessen einer Art, wird – im Gegensatz zum biologischen Aussterben – als gesellschaftliches Aussterben bezeichnet.

Was dieses Phänomen für die Biodiversität des Planeten bedeutet, untersuchte nun ein internationales und interdisziplinäres Forschungsteam. Ihre Ergebnisse wurden im Fachmagazin „Trends in Ecology & Evolution“ veröffentlicht. Das Forschungsteam beschreibt unterschiedliche Faktoren, von denen das gesellschaftliche Aussterben einer Art abhängt: den symbolischen und kulturellen Wert, den die Art in der Gesellschaft hat, ob und wie lange sie schon ausgestorben, und wie abgeschieden ihr Verbreitungsgebiet ist.

Nur Fellpräparate erinnern an Honshū-Wolf

So zeigte etwa Forschung zu ausgestorbenen Vogelarten sowohl im Südwesten Chinas als auch in Bolivien, wo diese Vogelarten früher jeweils heimisch waren, wie Arten aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden: Die Befragten waren nicht mehr in der Lage, die Arten zu benennen oder sich gar an ihr Aussehen und ihren Klang zu erinnern. Ein weiteres Beispiel, das in der Studie erwähnt wird: Das Wissen über viele Heilpflanzen in Europa ging nach der Ablösung der traditionellen Kräuterheilkunde durch die moderne Medizin immer mehr verloren. Das habe dazu geführt, dass die Erinnerung an einige Heilpflanzen mittlerweile vollständig verblasst ist.

Japanischer Wolf, Honshu-Wolf oder -Okami (Canis lupus hodophilax) im Museum
Momotarou2012
Das Fellpräparat eines Honshū-Wolfs

In Japan ist der Honshū-Wolf, die kleinste bekannte Unterart des Wolfes, laut dem Forschungsteam einem Prozess des allmählichen gesellschaftlichen Aussterbens ausgesetzt – nur noch wenige Fellpräparate in Museumssammlungen erinnern an ihn. Der letzte Honshū-Wolf starb 1905 in der Präfektur Nara auf der Insel Honshū.

Auch lebende Arten können gesellschaftlich aussterben

Der Beutelwolf, auch Tasmanischer Tiger, und der Beutelteufel, auch Tasmanischer Teufel genannt, wurden im Mittelholozän, also zwischen dem achten und vierten Jahrtausend v. Chr., auf dem australischen Festland ausgerottet und verschwanden aus dem Gedächtnis der indigenen Bevölkerung. In Tasmanien überlebten die beiden Tierarten hingegen. Während es nicht sicher ist, ob es noch lebende Tasmanische Tiger gibt – das letzte bekannte Tier starb 1936 -, lebt der Tasmanische Teufel noch heute in Tasmanien, gilt aber als bedroht.

Beutelwolf, auch Tasmanischer Wolf (Thylacinus cynocephalus)
Ben Sheppard
Der Beutelwolf oder Tasmanische Tiger

Manchmals sind Arten sogar schon aus der kollektiven Erinnerung einer Gesellschaft verschwunden, wenn sie im biologischen Sinn noch gar nicht ausgestorben waren. „Gesellschaftliches Aussterben tritt nicht nur bei ausgestorbenen Arten auf, sondern auch bei noch unter uns lebenden", sagt Koautor Diogo Verissimo vom Institut für Zoologie der Universität Oxford. „Soziale und kulturelle Veränderungen, wie beispielsweise Urbanisierung und die Digitalisierung der Gesellschaft, können unser Verhältnis zur Natur radikal ändern und zu einem kollektiven Gedächtnisverlust in Bezug auf einzelne Arten führen.“

Papagei in Animationsfilm wiedererweckt

Doch auch das Gegenteil kann der Fall sein: „Arten können auch nach ihrem Aussterben bekannt bleiben oder sogar noch bekannter werden“, so Koautor Uri Roll von der Ben-Gurion-Universität des Negev in Israel. „Unsere Erinnerungen an solche Arten verändern sich jedoch allmählich: Sie werden oft ungenau, stilisiert und vereinfacht.“

So auch beim Spix-Ara, einer Vogelart aus der Familie der Papageien. Dieser ist in freier Wildbahn ausgestorben. Weil zwei blaugefederte Spix-Aras im Animationsfilm „Rio“ die Hauptrollen spielen, glaubten befragte Kinder aus dem früheren Verbreitungsgebiet des Spix-Aras im Bundesstaat Bahia im Nordosten Brasiliens fälschlicherweise, dass die Papageienart in Rio de Janeiro lebt.

Die meisten Arten sterben unbemerkt aus

„Die meisten Arten können aber gar nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden – weil sie nie ein Teil davon waren“, betont Hauptautor Ivan Jarić, der am Biologiezentrum der Tschechischen Akademie der Wissenschaften forscht. Dies sei besonders bei kleinen, unauffälligen Arten der Fall, deren Verbreitungsgebiet schwer zugänglich ist, etwa bei wirbellosen Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen. Viele von ihnen seien von der Wissenschaft noch unentdeckt und der Menschheit nicht bekannt. "Sie werden nicht gesehen und sterben leise und unbemerkt aus.“

Eurasischer Bieber (Castor fiber)
Tomasz Chmielewski
Der Eurasische Biber ist das größte Nagetier Europas

Das gesellschaftliche Aussterben hat auch Folgen für die Biodiversität: „Es kann dazu beitragen, dass Naturschutzziele weniger ehrgeizig verfolgt werden", so Jarić. Kommen Arten in unserem Gedächtnis nicht mehr als natürliche Teile des Ökosystems vor, dann verringert das beispielsweise die öffentliche Unterstützung für Initiativen zur Wiederansiedlung, wie etwa jene des Eurasischen Bibers in Großbritannien. Um dem gesellschaftlichen Aussterben entgegenzuwirken seien Naturkundemuseen, Umweltbildung und langfristige Kommunikationskampagnen unverzichtbar.

1 Wespe = 16 Wespen

Dass auch Vielfalt in der Natur sehr lange unbemerkt bleiben kann, zeigt aktuell eine weitere Studie: Sie handelt von einer Wespe mit dem Namen Ormyrus labotus. Der Wissenschaft ist sie bereits seit 1843 bekannt. Die Studie, die nun im Fachmagazin „Insect Systematics and Diversity“ veröffentlicht wurde, legt allerdings nahe, dass es sich dabei nicht nur um eine, sondern um mindestens 16 verschiedene Wespenarten handelt, die im Aussehen zwar identisch, aber genetisch unterschiedlich sind.

Wespen,  Ormyrus labotus
Gallery image by Entomological Society of America; component images by Sofia Sheikh, Anna Ward, and Andrew Forbes, University of Iowa
16 Wespenarten, die alle für Ormyrus labotus gehalten wurden

Dass mit neuen gentechnischen Methoden unbekannte Arten innerhalb einer bekannten Insektenart gefunden werden, sei nicht ungewöhnlich, sagt Andrew Forbes, Professor für Biologie an der University of Iowa und Erstautor der Studie. Die große Anzahl der in Ormyrus labotus gefundenen Arten zeige aber wie wichtig es ist, nach der verborgenen Vielfalt auf der Erde zu suchen. „Selbst die kleinste Art ist wichtig für ein Ökosystem. Und das Verständnis der Biologie jeder einzelnen Art kann ein wichtiger Bestandteil für den Schutz und die Erhaltung der Ökosysteme sein.“