Der Wittgenstein Preisträger 2019 Historiker Philipp Ther
APA/HERBERT NEUBAUER
APA/HERBERT NEUBAUER
Historiker Ther

„Putin unterschätzte Ukraines Widerstand“

Mit einem „fatalen und auch sehr gefährlichen“ Geschichtsbild im Hintergrund greift Russland Präsident Wladimir Putin mit ungeahnter Härte nach der Ukraine, sagt der Historiker Philipp Ther. Moskau habe den ukrainischen Widerstand unterschätzt – und das mache die Situation zusätzlich nun gefährlich.

Das verschrobene Geschichtsverständnis, mit dem Putin operiert, sei „in erster Linie ein Propagandainstrument“. Die seltsame Mischung aus einer russisch-imperialistischen und stalinistischen Erzählung lasse Stalins „Topos des Verrats“ durch die dem Westen zugewandte Ukraine gegenüber Russland wieder aufleben, sagt der Historiker Philipp Ther im Gespräch mit der APA.

Die Folgen waren damals „brutale Repressionen“ und die „absichtlich erzeugte und verschlimmerte“ Hungersnot mit rund vier Millionen Toten, so der Gründer und Leiter des Forschungszentrums für die Geschichte von Transformation (RECET) an der Universität Wien. Ther denkt aber, dass das Putin-Regime den ukrainischen Widerstand unterschätzt hat.

„Postimperialer Minderwertigkeitskomplex“

Die Kombination dieser Sichtweisen durch Putin ist „fatal und auch sehr gefährlich“, stehe aber auch in Zusammenhang damit, dass er Stalin und damit auch dessen Verbrechen am russischen Volk zum großen Teil rehabilitiert habe. Dieses Geschichtsbild sei ebenso „krude“, wie „in sich widersprüchlich“, aber auch „sehr abgehoben“. Daher glaubt Ther nicht, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung damit viel anfangen kann.

Allerdings werden die Bilder der „verräterischen Ukraine, der kein Existenzrecht zugebilligt wird“, wie auch der Topos des seit 2014 gewaltsam für sich vereinnahmten „Brudervolkes“ über die Propagandainstrumente vielfach verbreitet. All das stoße sicher auch auf Anklang, so der Professor für Geschichte Ostmitteleuropas.

Das gelte auch für den Appell des russischen Präsidenten an die vergangene „imperiale Größe“. Das falle auf fruchtbaren Boden – auch weil die russische Gesellschaft unter „einem postimperialen Minderwertigkeitskomplex“ leidet und sich einerseits vielfach in einer Opferrolle sieht, andererseits aber zugleich Herrschafts- und Machtansprüche auf ihre Nachbarn erhebt.

„Russland verhebt sich an der Ukraine“

Was Putin mit seiner Invasion in der Ukraine letztlich bezweckt, sei noch nicht absehbar, so Ther: „Ich bin mir auch nicht sicher, ob er es selber weiß.“ Das mache den Konflikt aber noch gefährlicher, „weil ein Krieg mit schlecht definierten Zielen auch besonders schwer zu beenden ist“. Aktuell sehe es danach aus, dass man einen Großteil der Ukraine besetzen wolle. Dazu gehört auch die Hauptstadt Kiew, die nach dem Geschichtsbild Putins ein Teil Russlands sein sollte.

Wie man das riesige Gebiet der Ukraine und eine derart zahlreiche Bevölkerung dauerhaft besetzt halten möchte, sei schwer vorstellbar. „Das kann nicht stabil sein“, so der Historiker. Denn schon nach der Annektierung der Krim und der Intervention in der Ostukraine im Jahr 2014 habe die Ukraine sich nicht dem Plan Moskaus gefügt und teils auch Gebiete wieder zurückgewonnen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg leisteten ukrainische Partisanen jahrelangen Widerstand. Dabei starben mehr als 100.000 Menschen, noch weit mehr wurden deportiert und in Lagern inhaftiert. „All das hat die ukrainische Nationalbewegung aber nicht wirklich gebrochen. Daher verhebt sich Russland an der Ukraine“, so Ther. Das mache die Situation jedoch zusätzlich gefährlich, weil es Putin zu noch drastischeren Maßnahmen treiben könne.

Aktionen Putins in anderen Ländern „denkbar“

Dass man der Ukraine keine echte europäische Option geboten habe, auch nachdem sich dort 2013/14 „eine klar proeuropäische Revolution“ ereignet habe, sei sehr bedauerlich. Man habe sich in den Folgejahren zu wenig für das Land interessiert und eingesetzt. Jetzt stehe eine massenhafte Fluchtbewegung nach Österreich bevor. Ther rechnet auf der Basis der Ausgangsbedingungen von 1992/93 und 2015/16 mit mindestens 200.000 Flüchtlingen.

Der Historiker warnt davor, Europa wie im Kalten Krieg in Einflusssphären zu unterteilen und damit einen neuen Eisernen Vorhang an der Westgrenze der Ukraine zu akzeptieren. Damit würde man die Ukraine als Nation aufgeben und letztlich „verraten“. Putins Weltsicht mit einem dahinterstehenden „ethnischen Nationskonzept“ der „russischen Welt“ („russkij mir“), wonach Russland eine Rolle als Schutzmacht russischsprachiger Menschen in anderen Ländern beansprucht, mache auch Aktionen in baltischen Ländern, der Republik Moldau oder in Zentralasien denkbar. „Daher ist es so dringend, ihm Widerstand zu leisten und ihn möglichst zu stoppen.“

„Anbiederung an Diktator“ auch in Österreich

Europäische Politiker mit nationalistischer, rechtspopulistischer und -radikaler Prägung, die sich in den vergangenen Jahren teils klar auf die Seite des Putin-Regimes geschlagen haben, wie etwa die FPÖ in Österreich, seien Feinde der liberalen Demokratie. Letztlich könne man die Anbiederung an einen Diktator nur als „verfassungs- und republikfeindlich“ verstehen: „Das muss man auch so klar mit Blick auf bestimmte Politiker sagen, die beispielsweise Putin zu ihrer Hochzeit eingeladen haben. Das war im Prinzip ein antidemokratischer Akt und wurde im Ausland auch als solcher verstanden.“

Wenn man sich nun vielerorts in der Betonung der Freiheit und der demokratischen Werte überschlägt, sollte man sich vor Augen halten, dass es für ein echtes Aufleben dieser Begriffe hierzulande konkreter Maßnahmen bedürfte – von der Korruptionsbekämpfung über die Parteienfinanzierung bis hin zur Medienförderung.