Cover von „Nature“ zur KI für antike Texte
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Geschichte

Künstliche Intelligenz restauriert antike Texte

„Ithaca“: So wie Odysseus’ Heimatinsel heißt eine neue Software, die das Verständnis der Antike verbessern soll. Mittels Künstlicher Intelligenz füllt sie Lücken in antiken Texten und hilft bei der Klärung von deren Herkunft und Alter. Am besten funktioniert das Programm zusammen mit dem Wissen von Historikerinnen und Historikern.

Künstliche Intelligenz (KI) ist immer weiter auf dem Vormarsch. Nachdem Schach bereits seit Jahren von lernfähigen Computerprogrammen dominiert wird, gelang es einem Programm der britischen Firma DeepMind im Jahr 2016, den Spitzenspieler Lee Sedol im Brettspiel Go zu besiegen. 2019 kam von derselben Firma die Meldung, dass KI auch bei Computerspielen die Nase vorne hat. So konnten Programme ihre menschlichen Kontrahenten sowohl bereits in Ego-Shootern als auch in Strategiespielen besiegen.

Für die Wissenschaft von größerer Relevanz ist Künstliche Intelligenz aber wegen der potenziellen Einsatzbereiche in der Forschung. Computerprogramme werden etwa bereits dazu genutzt, die extrem komplexe Faltung von Aminosäuren zu Proteinen vorherzusagen oder um lange als ungeklärt geltende physikalische Probleme zu lösen.

Wandernde, unvollständige Inschriften

Aus dem antiken Griechenland sind zahlreiche Inschriften bis heute erhalten – zum Teil aber in unvollständiger Form und mit Lücken in den Texten. Geschrieben wurden die Texte meist auf Materialien wie Holz, Stein oder auch Metall. Wann sie entstanden sind, ist bis heute oft nicht geklärt. Gängige Methoden zur Berechnung des Alters antiker Texte, wie etwa die Radiokarbonmethode, können bei derartigen Materialien nicht eingesetzt werden, so das Forscherteam.

„Es sind auch viele Inschriften im Laufe der Jahre von ihrem Ursprungsort verschwunden und an anderen Stellen weit davon entfernt wieder aufgetaucht. Heute den Ort zu finden, an dem die Texte einmal entstanden sind, ist in vielen Fällen kaum noch möglich“, erklärt die Historikerin Thea Sommerschield gegenüber science.ORF.at. Sie war mit einem Forscherteam um Yannis Assael von DeepMind an der Entwicklung des lernfähigen Programms „Ithaca“ beteiligt.

Eine der restaurierten Inschriften aus dem Jahr 485 v. Chr. betrifft ein Urteil zur Akropolis in Athen
CC BY-SA 3.0
Eine der restaurierten Inschriften aus dem Jahr 485 v. Chr. betrifft ein Urteil zur Akropolis in Athen

“Ithaca“ gibt Einblicke in die Antike

Das Programm, das in Kooperation mit mehreren Universitäten und Firmen wie etwa Google entwickelt wurde, soll die Analyse antiker Inschriften in drei Bereichen vereinfachen. Sommerschield: „Erstens wollen wir Texte so genau wie möglich datieren, zweitens wollen wir ihren geografischen Ursprung identifizieren und drittens soll das Programm Lücken in unvollständigen Texten mit möglichst großer Genauigkeit füllen.“

Auf menschliche Expertise könne dennoch kaum verzichtet werden, denn die Historikerin ergänzt: „Das Programm gibt nur nach ihrer Wahrscheinlichkeit gereihte Vorschläge zu passenden Textpassagen, dem Alter oder dem geografischen Ursprung von Inschriften an – Wissenschaftler müssen die Vorschläge dann noch bewerten und das beste Ergebnis herausfiltern.“

Der Name des Programms beruht auf der Rückkehr des legendären Helden Odysseus auf seine mythische Heimatinsel Ithaka. Von den Entwicklern wurde es aktuell im Fachjournal „Nature“ präsentiert.

Zugriff auf große Datenbanken

Die Berechnungen von „Ithaca“ basieren auf Informationen aus einer Datenbank des Packard Humanities Institute in Kalifornien, in der über 178.000 antike Inschriften enthalten sind. „Diese Datenbank ist die größte Quelle digitalisierter antiker Texte, die es gibt“, erklärt Assael gegenüber science.ORF.at.

Die in der Datenbank enthaltenen Texte sind in der Vergangenheit bereits von Expertinnen und Experten untersucht und bis aufs kleinste Detail analysiert worden – in das Programm konnten die Entwickler so eine große Menge an Informationen über antike Inschriften einspeisen. Zusätzlich nutzte das Team das Lexikon griechischer Namen von der britischen Oxford Universität, um dem Programm auch beizubringen, wann welche Namen in welchen Regionen am häufigsten vergeben wurden.

KI rekonstruiert verlorene Textpassagen

Das Forscherteam um Assael hat die Funktionen von „Ithaca“ auch bereits in Experimenten getestet. Das Programm konnte etwa ohne Hilfe von Menschen Inschriften, in denen einzelne Wörter fehlten, mit einer 62-prozentigen Genauigkeit wiederherstellen. Historikerinnen und Historikern ohne das Programm gelang das nur mit einer rund 25-prozentigen Genauigkeit.

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Aktuelles „Nature“-Cover

Wenn aber Expertinnen und Experten das Programm „Ithaca“ nutzen, verbesserte sich auch das Endergebnis. Demnach konnten Historiker mithilfe von „Ithaca“ die Texte mit einer Genauigkeit von etwa 72 Prozent rekonstruieren.

Dass die Kooperation zwischen der KI und den Fachleuten das beste Ergebnis liefert, ist für die Entwickler des Programms keine Überraschung. Assael: „Das Programm soll nicht als Ersatz für Forscherinnen und Forscher dienen, sondern als ihr Werkzeug.“ „Ithaca“ ist daher auch online zugänglich. „Wir möchten, dass das Programm so vielen Menschen wie möglich bei der Analyse antiker Inschriften hilft“, so Assael.

Keine Vorurteile oder Schwankungen

Der Einsatz von „Ithaca“ als Werkzeug um antike Inschriften zu rekonstruieren, bringe laut den Entwicklern einige klare Vorteile mit sich. Neben der verbesserten Genauigkeit, mit der die Texte restauriert und datiert werden können, habe das Programm auch keine Vorurteile gegenüber dem Inhalt der Inschriften. So behandle „Ithaca“ jeden Text gleich, egal ob es sich um wichtige politische Verlautbarungen oder nur die Einkaufsliste eines einfachen Bürgers handelt. Außerdem käme es zu keinen Schwankungen in den Ergebnissen, denn das Programm sollte bei gleichen Ausgangslagen auch immer die gleichen Ergebnisse erzielen.

Sommerschield: „Antike Inschriften verraten uns sehr viel über den Alltag, die Religion, die Politik und einige andere Bereiche der antiken Gesellschaft und geben uns damit Einblicke in eine der interessantesten Phasen unserer menschlichen Entwicklung.“ Die Historikerin findet es daher wichtig, mehr über das antike Griechenland und die dort entstandenen Inschriften zu erfahren. „Ithaca“ sieht Sommerschield als eine Möglichkeit an, die Art, wie antike Texte analysiert werden, nachhaltig zu verändern und die Zusammenarbeit von Künstlicher Intelligenz und Forscherteams voranzutreiben.