Polizisten am Roten Platz in Moskau
AFP – ALEXANDER NEMENOV
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Gratwanderung

Russland-Boykott in der Wissenschaft

Auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat der Westen mit einer Reihe von Boykottmaßnahmen reagiert. In der Wissenschaft sind sie eine Gratwanderung. Denn Kooperationen mit russischen Institutionen wurden auf Eis gelegt. Zugleich soll aber der Dialog mit Forscherinnen und Forschern, die oft mutig den Krieg kritisieren, nicht abbrechen.

Das System Wissenschaft ist ähnlich wie die Kultur und der Spitzensport international. In der Scientific Community begegnen sich Menschen aus aller Welt. Bestes Beispiel dafür ist vielleicht das Europäische Kernforschungszentrum CERN in Genf. Tausende Fachleute aus zig Ländern arbeiten hier am Teilchenbeschleuniger LCH zusammen, um den Aufbau der Materie im Universum zu erforschen.

“Krieg läuft allem zuwider, wofür CERN steht“

„CERN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um Nationen und Völker für das friedliche Streben nach Wissenschaft zusammenzubringen“, heißt es in einem CERN-Statement von voriger Woche. Der Krieg Russlands „läuft allem zuwider, wofür diese Organisation steht.“ Folgerichtig wurde ukrainischen Forscherinnen und Forschern Unterstützung angeboten und zugleich der Beobachterstatus Russlands am CERN suspendiert, sowie jede künftige Zusammenarbeit mit russischen Institutionen gestoppt.

Die meisten finden das gut, es gibt aber auch kritische Stimmen zu diesem CERN-Beschluss, wie die „New York Times“ berichtete. Die Theoretische Physikerin Lisa Randall von der US-Universität Harvard etwa meinte: “Wenn Wissenschaftler nicht verantwortlich sind für die Taten ihres Landes, ist er unfair und widerspricht dem internationalen Geist der Zusammenarbeit am CERN.“ Die laufende Forschung sei von dem Boykott aber nicht betroffen, betonte das CERN, russische Fachleute würden auch nicht nach Hause geschickt.

Initiativen für Publikations- und Zitationsverbot

Andere Mitglieder der Scientific Community wünschen sich hingegen eine noch härtere Gangart – sie fordern etwa ein Publikationsverbot für russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. „Sie haben kein Recht, der Wissenschaftsgemeinschaft weltweit irgendwelche Botschaften zu schicken“, sagte etwa Olesia Vashuk, die Vorsitzende der ukranischen Jungforscher, im Fachmagazin „Nature“. „Nature“ selbst und auch die ebenso renommierte Fachzeitschrift „Science“ haben den Krieg in den vergangenen Wochen zwar scharf verurteilt, halten aber nichts von derartigen Publikationsverboten.

Bisher haben sich nur einige wenige dazu entschlossen, darunter das „Journal of Molecular Structure“. Auch eine wichtige Zitationsdatenbank hat laut „Nature“ aufgehört, Zeitschriften aus Russland in ihr System einzuspeisen. Als Reaktion gaben russische Behörden bekannt, in Zukunft weniger auf ausländische Wissenschaftsstrukturen angewiesen sein und eigene fördern zu wollen.

Teilchenbeschleuniger LHC am CERN in Genf
AFP – VALENTIN FLAURAUD
Teilchenbeschleuniger LHC am CERN in Genf

Ein verschwundener Protestbrief

Die Gratwanderung am CERN in Genf ist ähnlich wie im Rest der Wissenschaftswelt. Auf der einen Seite will man klare Kante gegenüber russischen Institutionen zeigen, die hinter Putins Krieg stehen; auf der anderen Seite die Kommunikationskanäle zu individuellen Forscherinnen und Forschern nicht abbrechen. Ganz besonders zu jenen, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprachen – und damit viel Mut bewiesen.

Knapp 8.000 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen etwa haben in den ersten Invasionstagen einen offenen Brief unterschrieben, der die Fakten benannte und die „Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa allein bei Russland“ sah. „Es gibt keine vernünftige Rechtfertigung für diesen Krieg.“ Nachdem das Parlament in Moskau das Aussprechen dieser Fakten zum Verbrechen erklärte, verschwand der offene Brief – er ist mittlerweile nur noch über Web-Archivseiten bzw. an anderen Stellen auffindbar.

Unterstützung für Ukraine, Boykott Russlands

Die Forschungspolitik in Europa und somit auch in Österreich hat auf den Russland-Krieg doppelt reagiert. Zum einen mit Unterstützungsmaßnahmen ukrainischer Forscherinnen und Forscher. Im Rahmen der Initiative More für Menschen mit Fluchthintergrund fordern etwa Österreichs Unis im Sommersemester 2022 keine Studienbeiträge für alle Studierende mit ukrainischer Staatsbürgerschaft. Dazu gibt es eine Reihe weiterer Unterstützungsmaßnahmen von Hochschulen und vom Wissenschaftsfonds FWF.

Zum anderen hat die Europäische Kommission Sanktionen gegen Russland beschlossen. „Sie sehen vor, Kooperationen im EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe mit der Russischen Föderation zu suspendieren, Auszahlungen an russische Einrichtungen zu stoppen und bis auf Weiteres keine neuen Projekte mit russischen Partnern zu genehmigen“, wie Wissenschaftsminister Martin Polaschek (ÖVP) gegenüber science.ORF.at aufzählt. Auf nationaler Ebene werden diese Maßnahmen fortgesetzt. In Österreich hat etwa der FWF die Zusammenarbeit mit der Russian Science Foundation bis auf Weiteres ausgesetzt, es können keine neuen Projektanträge, an denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von russischen Forschungseinrichtungen beteiligt sind, eingereicht werden.

Graffitis mit den Schriftzügen „#Glory to Ukraine“ und „Stop Putler“, aufgenommen am Wiener Donaukanal
APA/GEORG HOCHMUTH
Graffitis am Wiener Donaukanal

“Freigeister an Unis schützen“

Differenziert sieht das Sabine Seidler, Rektorin der Technischen Universität (TU) Wien und Präsidentin der Universitätenkonferenz (uniko). Auf der einen Seite gebe es russische Institutionen, die Putins Krieg öffentlich unterstützen – diese Kooperationen müssten ausgesetzt werden. „Auf der anderen Seite gibt es eine große Gruppe russischer Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich gegen den Krieg unter nicht ganz leichten Bedingungen aussprechen“, so Seidler gegenüber science.ORF.at. Diese Gruppe müssen wir unterstützen, und das ist die Ambivalenz, in der wir uns im Moment bewegen.“

Seidler plädiert für Einzelfallprüfungen: „Ich halte es für keine gute Idee, jede Kooperation in Bausch und Bogen einzustellen, sondern sich jede Kooperation einzeln anzuschauen und über individuelle Kontakte, peer-to-peer zu überprüfen.“ Somit könnte es quasi nicht die Falschen treffen, die ohnehin in Opposition zum Putin-System stehen – denn „wo, wenn nicht an den Universitäten sind die Freigeister, die sich letztlich auch im System Gehör verschaffen können?“, so Seidler. Die uniko-Präsidentin hält etwa eine Unterschrift unter den Anti-Krieg-Brief für ein Kriterium, das für eine weitere Zusammenarbeit spricht.

Auch Wissenschaftsminister Polaschek unterscheidet zwischen institutionellen und individuellen Kooperationen. Bei Letzteren sei „die Zusammenarbeit im Einzelfall von der jeweiligen Hochschule im Kontext der allgemeinen Sanktionen und Werte basierten Zusammenarbeit zu prüfen und ebenfalls autonom zu entscheiden“, so Polaschek gegenüber science.ORF.at.

Kooperationen Österreich-Russland

Wie groß die Schnittmenge der österreichischen und russischen Wissenslandschaft tatsächlich ist, lässt sich nicht ganz einfach beantworten. Sicher ist laut Wissenschaftsministerium, dass zurzeit rund 2.500 Russen und Russinnen an heimischen Universitäten und Hochschulen studieren, in etwa so viele wie Menschen aus der Ukraine.

Einen Gesamtüberblick über alle in der Autonomie der Hochschul- und Forschungseinrichtungen laufenden Forschungskooperationen gebe es nicht. Im Jahr 2020/21 waren laut Datenbank der Agentur für Bildung und Internationalisierung (OeAd) fünf gesamtuniversitäre Kooperationen mit Russland gemeldet. Bekannt ist das Beispiel des Russland-Zentrums an der Universität Salzburg. Nach Kriegsbeginn hat die Uni einen Vertrag mit jener russischen Stiftung gekündigt, mit dessen Hilfe das Zentrum großteils finanziert wurde – es soll nun zu einem Dialogforum für Osteuropa ausgebaut werden.

Am Wissenschaftsfonds FWF laufen aktuell 51 Projekte mit Kooperationspartnern in Russland. Auch Institute der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) kooperieren mit russische Partnern. Neben dem erwähnten CERN in Genf geschieht dies etwa auch im Rahmen von GLORIA, der „Global Observation Research Initiative in Alpine Environments“, die ein weltweites Netzwerk zur Langzeitbeobachtung von alpinen Ökosystemen betreut.