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Zeitgeschichte

Lernen durch die Vergangenheit

Der Kriegsausbruch in der Ukraine erinnert an frühere Konflikte und Kriege in Europa. Der Blick in die Vergangenheit könne nicht alles erklären, aber helfen, besser auf die Gegenwart zu reagieren, meint der deutsche Historiker Andreas Wirsching.

Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat Europa eine kriegerische Gegenwart eingeholt, die hierzulande bisher eher ausgeblendet oder schöngeredet wurde. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist sie spätestens seit der Annexion der Krim 2014 bereits Realität. Der Historiker Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München und Professor für Neueste Geschichte an der Universität München, fühlt sich an das Europa 1938/39 erinnert, den Vorabend des Zweiten Weltkriegs.

Damals hatte Hitler den Konflikt um die Autonomie der tschechischen Sudetengebiete gezielt provoziert. Schließlich einigten sich Großbritannien, Frankreich und Italien mit ihm auf das Münchner Abkommen und akzeptierten damit Hitlers Annexion dieser Gebiete, um einen Krieg zu verhindern. Doch am 15. März 1939 überfiel die deutsche Armee auch die „Rest-Tschechei“, so die Bezeichnung Hitlers, und brach damit das Abkommen.

Putin wie Hitler?

Damals überließen die Westmächte die militärisch hilflose Tschechoslowakei ihrem Schicksal. Das seien die ersten Zeichen für einen großen europäischen Krieg gewesen, so Wirsching. Er sieht hier eine historische Analogie: Die Ukraine verfüge nicht über die militärischen Möglichkeiten wie Russland. Ebenso ging es der Tschechoslowakei mit Nazi-Deutschland: „Sie sind alleine gelassen worden. Es gab keine militärische Bestandsgarantie für sie seitens der Westmächte. Insofern waren sie alleine diesem dezidiert auf Krieg drängenden nationalsozialistischen Deutschland gegenübergestanden.“

Auch könne man durchaus davon sprechen, dass es in Russland einen Diktator gibt, auf den alles persönlich zuläuft und der gewissermaßen seinen eigenen persönlichen Willen zum Willen eines Staates in dem Sinne machen könne, und der diesen Staat in den Krieg treibe. „Von Hitler wissen wir sehr genau, dass er das sehr langfristig geplant hat“, so Wirsching.

Geschichte wiederholt sich nicht

1938/39 stand Europa an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg. Doch was können solche historischen Vergleiche der Gegenwart bringen? 2022 wird der Krieg auch in den sozialen Medien geführt, und da schneidet die Ukraine weit besser ab als Russland. Auch sonst ist alles anders: die Gesellschaft, die Kultur, der Kontext, die Atomwaffen.

Natürlich wiederhole sich die Geschichte nicht, so Wirsching. Auch solle man nicht alleine aufgrund historischer Expertise aktuelle Entscheidungen bestimmen. Aktuell beschränke etwa die Sorge vor einer atomaren Eskalation auch die Handlungsspielräume der NATO massiv. Schon deshalb sei die Situation nicht vergleichbar mit den 1930er Jahren.

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Putin orientiert sich an Vergangenem

Geschichte wiederholt sich nicht. Aber jede Gegenwart kann man historisch ableiten. Wahrscheinlich baut auch Putins Handeln und Denken auf historischen Erfahrungen. Putin-Kenner betonen etwa, wie sehr ihn seine Zeit als KGB-Mann in den 1970er und 1980er Jahren geprägt und wie schwer ihn das Ende der Sowjetunion gekränkt habe. Und auch in der Ukraine werden Erinnerungen wach. Zwar gebe es viele Gemeinsamkeiten und Überschneidungen der Ukrainer und Ukrainerinnen mit den Russinnen und Russen, gleichzeitig aber auch über Jahrhunderte wirksame Gegensätze.

Als Beispiel nennt Wirsching die Entkulakisierung durch Stalin in den 30er Jahren, die unter anderem zu einer gigantischen Hungersnot in der Ukraine führte, dem Holodomor. „Dass es damals Millionen Tote in einer Hungersnot gegeben hat, ist natürlich in der Ukraine auch nicht vergessen. Das sind historische Erfahrungen, die in so einer Situation wie jetzt aktualisiert werden, und die auch in der Vergangenheit beim ukrainischen Nationalismus eine nicht geringe Rolle gespielt haben“, so Wirsching.

Gegenwart braucht historische Reflexion

Ein reiner Präsentismus würde bedeuten, dass man sich bei der Analyse der Gegenwart rein auf die gegenwärtige Konstellation beziehe, unter Ausblendung der historischen Dimension. „Das wäre kurzschlüssig und führt auch in die Irre,“ so Wirsching. „Die Macht der Geschichte zeigt sich ja gerade in aktuellen Krisensituationen immer wieder“. Man verstehe die Gegenwart nicht, wenn man sich nicht klarmache, wie sie historisch gewachsen ist. „Damit wird dann aber auch klar, dass wir nicht beliebige Lösungen haben, die wir auf dem Reißbrett entwerfen können“. Die Geschichte aus der Gegenwart herauszulassen, wäre naiv.

Andererseits lassen sich in der Geschichte wohl unzählige Analogien zu gegenwärtigen Ereignissen finden, was die Sache schon wieder beliebiger macht. Wirsching stimmt dem zu: Geschichte sei ein sehr reichhaltiger Speicher von vielen verschiedenen Geschichten, die man heranziehen kann. „Das ist so ähnlich wie in der Bibel. Ich spitze es zu, aber man kann auch bei der Bibel sagen, ‚Kain erschlug seinen Bruder Abel‘, und ‚Geh hin und tue desgleichen‘. Und dann hat man zwei Bibelzitate, die nun wirklich nicht zusammenpassen."

Analogien haben nicht immer Gewicht

Im Zuge des Ukraine-Krieges kam in den Medien auch der Vergleich mit dem griechischen Aufstand gegen das Osmanische Reich Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Damals gab es in Europa eine Welle des Hellenismus, in Mittel- und Westeuropa unterstützte man die Griechen mit überschwänglicher Solidarität. Ähnlich den vielen Solidaritätsbekundungen heute in Westeuropa gegenüber der Ukraine.

Doch Wirsching ist nicht überzeugt von dieser Analogie: „Solche Analogien müssen sich wissenschaftlich plausibilisieren lassen, wenn sie auch Gewicht haben sollen". Der griechische Aufstand gegen das Osmanische Reich war eine Sezession innerhalb des Osmanisches Reichs. „Da sind die Konstellationen völlig anders. Der entscheidende Vergleichsparameter muss hier sein, dass ein souveräner Staat von einem anderen Staat mit überlegener Waffengewalt überfallen wird.“

Rückwärtsgewandte Propheten

Wirsching wagt als Historiker sogar einen Blick in die Zukunft und prognostiziert, dass es kein Zurück zur bisherigen Globalisierung geben werde. Gerade Deutschland müsse sich „auf weitere Störungen des internationalen Handels, wirtschaftliche und finanzielle Unsicherheit“ einstellen und auf Millionen Flüchtlinge. Wenn Historiker sich als Historiker über die Zukunft geäußert haben, dann lagen sie auch häufig falsch, gibt Wirsching zu. Die Zukunft voraussagen können aber auch Politikwissenschaftler oder Philosophinnen nicht.

Trotzdem könne man natürlich argumentieren und Wahrscheinlichkeiten formulieren, die sich durchaus auch aus der Erkenntnis der Geschichte ergeben. Auf das historische Gewachsensein, auf den Wissensspeicher, den die Geschichte bietet, sollte man jedenfalls auf keinen Fall verzichten, sagt Wirsching. Es geht also darum, mit dem Blick zurück bestmögliche Entscheidungen für die Gegenwart und die Zukunft zu treffen. Damit 2022 eine bessere Geschichte geschrieben wird als 1939, als sich der Krieg auf ganz Europa ausbreitete.