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DYNAMOWIEN/Florian Jungwirth
DYNAMOWIEN/Florian Jungwirth

Österreichs hundertjährige Opferdoktrin

Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine wird die österreichische Neutralität wieder diskutiert. Das Geschichtsbild Österreichs als Opfer externer Kräfte bekam dabei eine neue Dimension: seine Ausdehnung bis in die Gegenwart. Der Historiker Berthold Molden ortet in einem Gastbeitrag eine Art hundertjährige Opferdoktrin Österreichs – und geht ihr mittels historischer Diskursanalyse nach.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 löste in Europa eine breite Palette an Reaktionen aus. Ein plötzliches Bekenntnis der NATO-Staaten zur Aufrüstung des europäischen Sicherheitssystems war neben den Solidaritätsleistungen für die ukrainische Zivilbevölkerung wohl die auffälligste. Insbesondere der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz legte mit seiner Erklärung, den deutschen Verteidigungshaushalt um 100 Milliarden Euro zu erhöhen, eine aufsehenerregende Kehrtwende hin. In Österreich, durch seine Verfassung zur Neutralität verpflichtet, begann eine Diskussion über diesen Status, dessen mögliche Revision und einen etwaigen Beitritt zur NATO.

Porträtfoto von Berthold Molden
IFK

Über den Autor:

Der Historiker Berthold Molden lehrt an der Universität Wien.

“Aufgezwungene“ Neutralität

Zu Beginn dieser Diskussion meldete sich Bundeskanzler Karl Nehammer in der ORF-Pressestunde über die Ukraine-Krise zu Wort: Die Neutralität sei 1955 „unter einem Druckszenario“ entstanden: „Also wir kennen schon in der österreichischen Geschichte sowjetischen Druck.“ Zu beachten waren an dieser Aussage zwei Elemente: die betonte Unfreiwilligkeit der Neutralität und die Verwischung des Unterschieds zwischen dem heutigen Russland und der Sowjetunion. Erstere Aussage war auch von Veit Dengler zu lesen, einem der Gründer der Partei NEOS. Er erklärte in einem Kommentar in der Tageszeitung Der Standard, Österreich habe „die Neutralität 1955 nicht aus freien Stücken gewählt“. Demnach existiere Österreich in einem unfreiwilligen völkerrechtlichen Status, aus dem es sich durch einen baldigen NATO-Beitritt zu befreien gelte. Diese Forderung – der Bundeskanzler machte freilich alsbald deutlich, die Neutralität nicht einem NATO-Beitritt opfern zu wollen – drückte eine bisher so kaum artikulierte hundertjährige Opferdoktrin aus.

Warum scheint die Sonne nicht auch auf Österreich?

Der Begriff „Opferthese“ bezeichnet gemeinhin die außenpolitische Doktrin Österreichs nach 1945, sich auf die Position als erstes völkerrechtliches Opfer NS-Deutschlands zurückzuziehen. Diese Deutung erwies sich als äußerst stark, mutationsfähig und nützlich. So wurde nach 1945 der Souveränitätsverlust der NS-Zeit mehr oder minder subtil mit der alliierten Besatzung zu einer „österreichischen Kohärenz“ verknüpft. Diese verlängerte und gedoppelte Opferthese trug zum Aufbau einer österreichischen Nationalidentität bei, was sich in Nachkriegszeitungen ebenso nachlesen lässt wie in den Nationalratsprotokollen dieser Zeit.

1950 beschwerte sich beispielsweise der sozialdemokratische Abgeordnete Ernst Koref in einer Parlamentsdebatte: „Der Österreicher hat es nicht verdient […], zum Kolonialdasein erniedrigt zu werden.“ Zwei Jahre später sang Hans Moser als inoffizielle und etwas wehleidige Hymne: „Die Sonne scheint auf alle gleich, warum nicht auch auf Österreich?“ Dieses Lied erklang im Science-Fiction-Film „1. April 2000“, bezahlt von der Bundesregierung und erdacht vom ÖVP-nahen Kulturchef des Bundespressedienstes Ernst Marboe als geschichtspolitische Intervention gegen den Besatzungszustand.

“Unfreiheit“ von 1938 bis 1955

Am 15. Mai 1955 wurde der Staatsvertrag unterzeichnet und Außenminister Leopold verkündete: „Österreich ist frei!“ Österreichs Medien begleiteten diesen Tag mit Berichten, Analysen und feierlichen Leitartikeln. Hugo Portisch schrieb damals im Neuen Kurier, man sei nun wieder „Herr im eigenen Haus“. Hier könnte man ein Echo aus den Kolonialassoziationen Ernst Korefs heraushören, oder doch einen globalen transnationalen Zeitgeist, denn kaum ein Monat früher verwendete auf der anderen Seite der Welt ein postkolonialer Staatschef die gleichen Worte. Als er am 17. April 1955 die Afro-Asiatische Konferenz eröffnete, aus der später unter anderem die Blockfreie Bewegung hervorgehen sollte, erklärte der indonesische Präsident Sukarno: „Our nations and countries are colonies no more. Now we are free, sovereign and independent. We are again masters in our own house.“

Österreichischer Staatvertrag mit Siegeln und Unterschriften
APA/HANS HOFER
Staatsvertrag

Wie Sokarno die fortschreitende Dekolonisierung, so feierten damals Österreichs Regierung – darunter nicht zuletzt der von der ÖVP als außenpolitische Ikone geehrte Figl – und Bevölkerung den Staatsvertrag inklusive Neutralität als Befreiungsschlag. In gewisser Weise lässt sich die Analogie zwischen dem postkolonialen Politiker und dem österreichischen Journalisten Portisch noch weitertreiben, schrieb doch letzterer in seinem Kommentar von 17 Jahren Unfreiheit. Auch er bediente sich also dieser Wendung durchgehender Abhängigkeit seit 1938.

Trope des Opfers schon seit 1918

Doch erweitert man den diskurshistorischen Blickwinkel, so wird die beklagte Zeitspanne noch länger. In gewisser Weise konnten sich Politiker und Journalisten auf dem Weg zum Staatsvertrag auf ein österreichisches Latenzgedächtnis von gar vier Jahrzehnten eingeschränkter Souveränität oder staatlicher Nichtexistenz beziehen. Schließlich hatte die Trope des Opfers eine noch längere Tradition im österreichischen Geschichtsdenken. Schon den Regierungs- und Intellektuellenkreisen der verglimmenden Habsburgischen Großmachtepoche war die Querulanz über die Parteilichkeit der Geschichte geläufig. In der Republik Österreich wurde die Beschwerde über weltpolitische und historische Ungerechtigkeit zum bestimmenden Element der Nationalstaatsbildung.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Österreich von Vielen als Opfer der Verträge von Saint-Germain gesehen, die den von vielen Zeitgenossen – darunter zahlreiche Leitfiguren der Sozialdemokratie – begehrten Anschluss an Deutschland untersagten und damit Österreich das von US-Präsident Wilson ebenso wie von Lenin proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker verwehrten. 1938 hingegen sei das Land eben in erster Linie ein Opfer des Dritten Reiches gewesen, verraten auch von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges. Der damalige Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung Oskar Pollak formulierte das noch 1958 in einer Jubiläumsschrift der SPÖ folgendermaßen: „Die Sieger [von 1918], die in ihrer Kurzsichtigkeit den neuen, um ihre Existenz ringenden Demokratien […] unter demütigenden Begleiterscheinungen drückende Friedensdiktate auferlegten, verboten brüsk diesen Zusammenschluß. Sie haben den Anschluß, so wie alles, was sie den jungen Demokratien verweigert hatten, später dem Faschismus bewilligt.“ 1945 wurde Österreich dann, je nach Weltsicht, besiegt bzw. befreit, nur um unter alliierter Besatzung zu bleiben. Ein weiteres Jahrzehnt der Fremdbestimmung.

Aus „Unfreiheit“ Identität schöpfen

Bis 1955. Lange schien es, dass mit dem Staatsvertrag die Unfreiheit beseitigt worden und Österreich vom Opfertum wieder in den Status der Handlungsfähigkeit getreten sei. Nach dem Ende des Kalten Krieges – und mit dem Wegfall jener globalen Machtkonstellation, die Staatsvertrag und Neutralität gezeitigt hatte – diskutierte man in Österreich den EU-Beitritt. Die FPÖ unter Jörg Haider warnte damals vor dem Verlust dieser Handlungsmacht und identitärer Selbstbestimmtheit. Haiders späterer Nachfolger Herbert Kickl sprach sich in der Neutralitätsdebatte 2022 für eine stark bewaffnete Neutralität und das „Beenden der EU-Anhängselpolitik“ aus. Da man nur verlieren kann, was man gehabt hat, suggeriert solche Rhetorik, dass die österreichische Politik von links nach rechts von einer intakten Souveränität des Landes ausging.

Diese Diagnose scheint nun nicht länger gültig. Denn fügen wir der kurz umrissenen Opferdiskursgeschichte die eingangs zitierten Aussagen hinzu, dann erscheint Österreich bis heute seiner Eigenständigkeit beraubt. Der Opferstatus währte in dieser Perspektive schon über ein Jahrhundert, seit Österreich vom imperialen Flächenimperium zum republikanischen Kleinstaat geworden war. Der anfängliche Zweifel an dessen Lebensfähigkeit brachte ein opferhaftes Selbstbild einer letztlich unfreien Nation hervor, dass paradoxer Weise immer wieder zur Mobilisierung nationaler Identitätskräfte herangezogen wurde. Dabei aber stand und steht es im Widerspruch zu wichtigen Strängen der Republikgeschichte.

Westorientierung trotz Neutralität

Anhand der Neutralität lässt sich das leicht erläutern. Erstens nämlich war die sowjetische Forderung nicht zuletzt als Reaktion auf die zunehmende Anbindung Westösterreichs an die NATO ab 1949 entstanden. Zweitens war die Option auch von der ÖVP schon in den frühen Nachkriegsjahren ventiliert worden und spätestens 1954 Kanzler Julius Raabs bevorzugte Lösung. Beides ist beim Doyen der Staatsvertragsgeschichte Gerald Stourzh nachzulesen. Drittens hat die „von den Russen erzwungene“ Neutralität Österreich zahlreiche Vorteile verschafft, die zur Kräftigung seiner internationalen Position beitrugen: Auf Kriegsreparationen wurde verzichtet, die UNO machte Wien wieder zu einem globalen Konferenzort und der Handel mit dem „Ostblock“ legte die Basis für bis heute florierende österreichische Kommerz- und Finanznetzwerke in Ostmitteleuropa.

Ungarn-Aufstand 1956
AP
Ungarn-Aufstand 1956

Viertens konnte Österreich sehr wohl eine unabhängige und selbstbewusste Außenpolitik entwickeln. Bereits 1956, mitten im Kalten Krieg und frisch neutral, bezog Österreich klare Position gegen die Niederschlagung der ungarischen Demokratiebewegung und zeigte sich den fast 200.000 geflüchteten Ungarn gegenüber äußerst hilfsbereit. Seine Westorientierung hat das Land weder damals noch in den folgenden Jahrzehnten je verborgen. Es tat dies nicht während Bruno Kreiskys von konservativer Seite als „blockfrei“ kritisierter Außenpolitik und auch nicht nach 1989, als es sich unter Fahnenführung von Außenminister Alois Mock im jugoslawischen Sezessionskrieg auf die Seite Sloweniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas schlug. Neutralität hat demnach nie Äquidistanz bedeutet, sondern allenfalls militärische Paktfreiheit.

Antikommunismus: Indiz für Handlungsfreiheit

Ein weiteres, von dieser verlängerten Opferthese ignoriertes historisches Indiz für die österreichische Handlungsfreiheit war der ausgeprägte Antikommunismus, der bereits in den 1940er Jahren über die Parteigrenzen hinweg in Österreich einsetzte, ungefähr zeitgleich mit der Generalabsolution für ehemalige Nazis. Dieses ideologische Element steht zudem für einen damit verbundenen Abwehrmythos, der in Österreich ebenfalls lange Tradition hat: Eine „Gefahr aus dem Osten“ wird als kulturelle Bedrohung beschworen, deren Opfer Österreich als tapferes Bollwerk des Westens immer wieder geworden sei. Diese Herkunftserzählung kennt unter anderem die hunnisch-osmanisch-türkische Feindesvariante, die bis auf den Gründungsmythos vom Sarazenenblut als das Rot der österreichischen Flagge zurückgeht und ihre Höhepunkte in den osmanischen Belagerungen Wiens hat. Auch der bedrohliche „Ostjude“ war ab Ende des 19. Jahrhunderts eine populistisch eingesetzte Spielart des östlichen Bedrohungsszenarios.

Ein in Österreich sehr resilienter antirussischer Spin des Antikommunismus – vereinfacht und polemisch formuliert: „Kommunist = Russe = Slawe = marodierender Steppenkrieger / totalitärer Totschläger“ (oder deren nationaler Vollzugsgehilfe) – wurde auch im Zuge des aktuellen Kriegs in der Ukraine wiederbelebt. So etwa waren in der Kronen Zeitung die traumatischen Erinnerungen einer Steirerin aus der sowjetischen Besatzungszeit neben Berichten aus der Ukraine und einem kritischen Artikel über die Grazer KPÖ geschaltet. Eine Darstellung des Kommunismus als schädliche Kraft von außen ignoriert jedoch ebenfalls historische Evidenz, die gerade angesichts der aktuellen Sicherheitspolitik in Europa relevant erscheint: Die Kommunistischen Parteien Deutschlands und – in geringerem Maße – Österreichs hatten 1919 nicht zuletzt von jenen Leuten Zulauf, die von der Zustimmung der Sozialdemokraten zur Kriegspolitik von 1914 enttäuscht worden waren.

Auch die Entwicklung des Kommunismus in Österreich lässt sich also keineswegs auf reine Infiltration von außen reduzieren, sondern war Teil einer transnationalen Geschichte, in der Österreicher sehr wohl als Akteure auftraten. Externalisierungen wie diese – oder jene, ohne Kommunismus und Nationalsozialismus hier analog setzen zu wollen, dass „die Nazis 1938 aus Deutschland kamen“ – sind Teil einer Opfererzählung, die zum identitätsstiftenden Diskursgeflecht der österreichischen Geschichtskultur gehört. Mit Hilfe der Kritischen Diskursanalyse und sorgfältiger Zeitgeschichtsforschung können sie historisiert und relativiert werden.