Netzwerkt von Straßen in London (links) und New York (rechts)
Antoine Coutrot, Ed Manley, Nature
Antoine Coutrot, Ed Manley, Nature
Orientierung

Städter finden schlechter zum Ziel

Wo wir aufwachsen, wirkt sich unter anderem direkt auf unseren Orientierungssinn aus. Personen aus Städten finden sich laut einer aktuellen Studie etwa schlechter in komplexen Umgebungen zurecht als jene vom Land. Eine Erkenntnis, mit der auch die Diagnose von Alzheimer künftig verbessert werden könnte.

Dass Personen von ihrer Umgebung beeinflusst werden, ist nichts Neues. Frühere Studien zeigen zum Beispiel, dass sich ein Wohnort in einer naturbelassenen Umgebung positiv auf die generelle Gesundheit auswirken kann – enge, urbane Gebiete können hingegen das Risiko von psychischen Erkrankungen erhöhen.

Dass der Ort, an dem wir aufwachsen, aber auch Auswirkungen auf unseren Orientierungssinn hat, zeigt nun ein Forscherteam um den französischen Neurowissenschaftler Antoine Coutrot. In der im Fachjournal „Nature“ erschienenen Studie wollten die Forscherinnen und Forscher herausfinden, wie gut sich verschiedene Personen in einer für sie unbekannten Umgebung orientieren können. Am Projekt waren Experten des University College London (UCL) und der Universitäten Lyon und East Anglia beteiligt.

Datenerhebung mit Videospiel

Das Team machte sich für die Untersuchung das Videospiel „Sea Hero Quest“ zunutze. Dabei handelt es sich um ein kostenloses Spiel auf Mobiltelefonen, bei dem die Spielerinnen und Spieler ein Schiff durch eine virtuelle Umgebung navigieren müssen. Coutrot erklärt gegenüber science.ORF.at: „Zuerst wird den Teilnehmern eine Landkarte gezeigt, aber nur kurz. Danach müssen sie selbstständig und ohne die Karte mehrere Wegpunkte mit dem Schiff erreichen und so möglichst schnell zum Ziel finden.“ Die Spielerinnen und Spieler werden außerdem gebeten, freiwillig Informationen über Dinge wie ihren Wohnort oder ihr Alter bereitzustellen.

Insgesamt konnten die Forscher so umfangreiche Daten von knapp 400.000 Personen aus 38 Ländern sammeln und analysieren, wie gut sie mit der Navigationsaufgabe zurechtkamen. „Ohne das Spiel wäre es kaum möglich gewesen, eine so große Datenmenge zu erhalten“, erklärt Coutrot.

Klare Struktur ersetzt Orientierungssinn

Das Ergebnis der Untersuchung: Jene Personen, die in Städten mit einem gitterartigen Straßensystem aufgewachsen sind, haben bei dem Videospiel im Durchschnitt schlechtere Ergebnisse erzielt als jene, aus ländlicheren Gebieten. Coutrot erklärt: „Wir wissen aus früheren Untersuchungen, dass der Orientierungssinn mit fortschreitendem Alter immer weiter abnimmt. Die aktuelle Studie zeigt, dass Personen aus klar strukturierten Städten beim Spiel etwa gleich gut abgeschnitten haben, wie fünf Jahre ältere Personen vom Land.“

Der französische Neurowissenschaftler erklärt das Ergebnis so: „Wenn man als Kind in einer Stadt mit Straßen aufwächst, die in einer Art Gitter angelegt sind, muss man keinen besonderen Orientierungssinn entwickeln.“ Sofern die ungefähre Richtung, in der das Ziel liegt, bekannt ist, könne es relativ leicht mithilfe der strukturierten Straßen erreicht werden.

Chicago: eine Stadt mit gitterartigem Straßensystem
Ed Manley, Nature
Chicago: eine Stadt mit gitterartigem Straßensystem

Personen vom Land können sich hingegen nicht an die Struktur des Straßennetzes halten – sie seien laut Coutrot daher generell stärker gefordert, schon früh einen ausgeprägten Orientierungssinn zu entwickeln. Die Folge: Sie können sich auch später im Leben in komplexeren Umgebungen besser zurechtfinden.

Art zu navigieren ist „Gewohnheitssache“

Im Durchschnitt schnitten die Spielerinnen und Spieler aus urbanen Regionen beim Videospiel also schlechter ab, gleichzeitig konnten sie aber bei weniger komplexen Umgebungen, die ebenfalls einer gewissen Struktur folgten, recht gute Ergebnisse erzielen. Coutrot: „Das ist für uns der Beweis, dass sich unsere Umgebung nicht nur generell auf die Fähigkeit auswirkt, wie gut wir uns orientieren können, sondern dass vor allem die Art, wie wir durch unsere Umgebung navigieren, davon bestimmt wird.“ Demnach würden sich Personen meist in jenen Umgebungen am besten zurechtfinden, die ähnlich komplex wie die Orte ihrer Kindheit sind.

In weiteren Untersuchungen möchte Coutrot herausfinden, welche Faktoren den Orientierungssinn vor allem im Kindesalter noch beeinflussen könnten. „Neben dem klar strukturierten Straßennetz können auch Faktoren wie auffällige Gebäude oder andere Sehenswürdigkeiten eine Rolle spielen“, erklärt er.

Vor allem sei das Ergebnis der Studie aber ein weiterer Schritt, Diagnosewerkzeuge für Krankheiten wie Alzheimer oder Demenz zu verbessern – denn Orientierungslosigkeit gilt als frühes Anzeichen dieser Krankheiten. Coutrot: „Behandelnde Ärzte könnten künftig Symptome von Alzheimer-Patienten anhand der großen Datenbank besser mit Personen auf der ganzen Welt vergleichen.“