Eltern kennen die regelmäßigen Kontrollen bei Kinderärztinnen und -ärzten, die Größe, Gewicht und Kopfumfang des Nachwuchses aufzeichnen. Indem die Daten mit Gleichaltrigen verglichen werden, lassen sich etwa Wachstumsstörungen erkennen. Wachstumstabellen gehören seit mehr als 200 Jahren zu den Eckpfeilern der Pädiatrie. Analoge Referenztabellen für das Gehirn gibt es bisher aber keine.
Das Team um den Neurowissenschaftler Richard Bethlehem von der Universität Cambridge hat nun einen ersten Schritt gemacht, um diese Lücke zu schließen. Sie trugen den nach eigenen Angaben bisher größten Datensatz zusammen, um typische und atypische Entwicklungen und Alterungsprozesse des Gehirns aufzudecken. In die Arbeit flossen fast 125.000 Hirnscans von über 100.000 Personen ein, wie sie am Mittwoch im Fachmagazin „Nature“ berichteten. Die Hirnscans stammen von 15 Wochen alten Föten bis zu hundertjährigen Personen.
Graue Substanz nimmt mit sechstem Lebensjahr ab
Anhand der Daten konnten die Forscherinnen und Forscher etwa zeigen, dass das Volumen der grauen Hirnsubstanz, die hauptsächlich Nervenzellen enthält, ab Mitte der Schwangerschaft beim Ungeborenen rasch zunimmt und kurz vor dem sechsten Lebensjahr seinen Höhepunkt erreicht. Danach wird es langsam weniger.
Auch die weiße Substanz – vereinfacht gesagt der Kommunikationskanal des Gehirns – nimmt bis zum 29. Lebensjahr rasch zu. Ab fünfzig Jahren beschleunigt sich der Rückgang. Zudem ging aus den Daten hervor, dass die Gehirngröße mit dem Alter natürlicherweise abnimmt – bei Alzheimer-Patienten jedoch viel schneller.

Das Volumen der grauen Substanz in Regionen unterhalb der Großhirnrinde, die grundlegende Körper- und Verhaltensfunktionen kontrollieren, erreicht in der Jugend seinen Höhepunkt – zwischen 14 und 15 Jahren.
Noch langer Weg bis zum klinischen Einsatz
Auf der offen zugänglichen Website BrainChart präsentieren die Forscherinnen und Forscher die Referenztabellen für die durchschnittliche Gehirnentwicklung im Lauf des Lebens – abhängig vom Geschlecht – und visualisieren Einflüsse von Krankheiten wie Alzheimer auf das Gehirn. Sie hoffen, dass die Referenztabellen einst zu einem klinischen Routineinstrument werden.
Doch sie betonen, dass das noch ein langer Weg sei und man sich noch in einem sehr frühen Stadium dieses Vorhabens befinde. Denn es gebe noch Verzerrung in den Erkenntnissen, weil beispielsweise vor allem Daten von Menschen europäischer und nordamerikanischer Abstammung in die Analyse eingeflossen seien. Solche Verzerrungen müssten von der globalen wissenschaftlichen Gemeinschaft angegangen werden, so die Fachleute.