Frontex, Mittelmeer, Flüchtlinge, Migration
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Gramsci-Preisträger

„Frontex muss Bild von Migration überdenken“

Der Berliner Kulturanthropologe Bernd Kasparek ist Gewinner des diesjährigen Antonio-Gramsci-Preises für kritische Migrationsforschung. In seiner Forschung beobachtet Kasparek die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Seine Bilanz: Die Theorie des Grenzschutzes scheitert meist an der Realität.

Ausgezeichnet werden mit dem Antonio-Gramsci-Preis, der von der Arbeiterkammer Wien und der Universität Bielefeld verliehen wird, Dissertationen, die sich mit dem Thema Migration auseinandersetzen. Der diesjährige Preisträger Bernd Kasparek forscht seit zehn Jahren an den europäischen Außengrenzen. Der Mathematiker und Kulturanthropologe von der Humboldt Universität Berlin ist Frontex durch Europa gefolgt.

Die Menschen, die in den Booten an die europäischen Küsten gelangten, seien nicht immer einsortierbar in jene starren Kategorien, die der europäische Grenzschutz kenne. Es seien Menschen mit unterschiedlichsten Voraussetzungen und Aufenthaltsrechten. „Es wird ständig daran gearbeitet, diese Kategorien aus Brüssel der Realität anzupassen. Das ist eine große Herausforderung, die wir an jeder Grenze gesehen haben und die im Gegensatz zu den politischen Festlegungen steht, die in Brüssel gemacht werden“, so Kasparek im Interview mit science.ORF.at.

Technologie und Menschenrechte

In der EU-Verwaltung herrsche eine Vision, die Außengrenzen mit sehr viel Technologie besser unter Kontrolle halten zu können und dabei immer im Bereich der Rechtsstaatlichkeit zu bleiben. „Wenn man aber an der Grenze ist, dann sieht man, dass diese Technologien nie das bringen, was sie versprechen“, erzählt Bernd Kasparek. Es sei eine Utopie, die man sich in Brüssel ausgedacht habe. Frontex wurde hochtechnologisch aufgerüstet, „um alles zu erkennen, was sich auf dem Mittelmeer bewegt.“

Beispielsweise versuche man mit dem Europäischen Grenzüberwachungssystem EUROSUR seit den 2000er Jahren, Sensoren an der gesamten europäischen Außengrenze und darüber hinaus miteinander zu verknüpfen, um ein gemeinsames Lagebild in Echtzeit zu erstellen.

Die Vision sei, dass Satelliten Bilder von der Grenze liefern, und Drohnen, die ständig über der Grenze patrouillieren, Infrarotaufnahmen schicken. Dazu kommen mobile Patrouillen, die ebenfalls Daten einspeisen. „Wenn man alles zusammenfüge, könne man gezielter an der Grenze intervenieren – das ist das Versprechen des europäischen Grenzüberwachungssystems“, so Kasparek. Aus dieser erhöhten Sichtbarkeit sei aber auch eine neue menschenrechtliche Verpflichtung für die EU entstanden.

Keine Kapazitäten zur Rettung von Flüchtlingen

„Wenn ich schon im Vorfeld erkennen kann, dass ein Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer unterwegs ist und in Seenot gerät, dann bin ich als Europäische Union und als Mitgliedsstaat natürlich zur Seenotrettung verpflichtet“, so Kasparek. Man könne sich nicht mehr darauf ausreden, „dass man ja nicht gewusst hätte, dass es dieses Boot gab, weil es sich nicht angemeldet hat. Das ist ein riesiges Problem bei dieser neuen Technologie, das nie richtig ausformuliert wurde.“

Für die Seenotrettung fehlten daher auch Kapazitäten, Ressourcen, und letztendlich auch der Wille, kritisiert Kasparek. Er plädiert dafür, dass Europa sich auf seine Grundsätze rückbesinnen müsste. „Nämlich, dass es ein Grundrecht auf Asyl gibt, dass das in Europa eine Errungenschaft ist und dass es gilt, dieses Grundrecht zu verteidigen, auch wenn es mit gewissen Kosten verbunden ist“. Diese moralische und ethische Orientierung müsse man auch in den Techniken und Gesetzen der Grenzkontrolle umsetzen.

Innen- und Außengrenzen stehen in Verbindung

Kasparek zieht Parallelen zwischen dem Schengener Abkommen und der europäischen Migrationspolitik. Das Schengener Abkommen regelt seit 1993 den europäischen Binnenmarkt und vor allem den freien Grenzverkehr nach innen. Europa habe die inneren Grenzen mit dem Schengener Abkommen immer weiter aufgeweicht und halte die Bewegungsfreiheit als eine der wichtigsten Säulen hoch. Gleichzeitig sehe man aber, dass es im Bezug auf den Rest der Welt eine immer stärkere Einschränkung der Bewegungsfreiheit gebe. Mit der inneren Bewegungsfreiheit ging die Stärkung der Außengrenzen einher.

Was Kasparek in seinen ethnologischen Beobachten noch entdeckt hat: Migration sei im Selbstverständnis von Frontex hauptsächlich als etwas Bedrohliches und Negatives festgeschrieben, auch dieses Bild solle man überdenken, wenn Europa sich an seinen menschenrechtlichen Ansprüchen messen lassen wolle.