Venus von Willendorf
Epo film / ORF
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Venus von Willendorf

Großmutter statt Sexsymbol

Seit ihrem Fund vor mehr als hundert Jahren ist die Venus von Willendorf Projektionsfläche für unterschiedlichste Theorien. Galt die elf Zentimeter große Frauenstatuette lange als Fruchtbarkeits- oder Sexsymbol, interpretiert sie die Wissenschaft heute anders – als Darstellung einer weisen alten Großmutter.

Mit ihren fast 30.000 Jahren ist die Venus von Willendorf ein gefeierter Star – vor allem, seit sie 2018 wegen ihrer Nacktheit von Facebook verbannt wurde. Aufbewahrt und intensiv beforscht im Naturhistorischen Museum (NHM) in Wien, gehört sie zu den ältesten bekannten Kunstwerken der Menschheit und überrascht die Wissenschaft immer wieder aufs Neue. Vor allem ihre Nacktheit und detailliert dargestellte Vulva inspirierten zu abenteuerlichen Deutungen – und Missdeutungen: vom Sexsymbol bis zur Fruchtbarkeitsgöttin, vom Pin-up-Girl bis zur Ikone des Matriarchats.

Neues Wissen, neue Deutung

„Die ersten Interpretationen waren in Verbindung mit Fruchtbarkeit. Man hat eine nackte Frauengestalt gesehen, die große Brüste hatte und bei der die Geschlechtsmerkmale deutlich dargestellt sind, und hat sie eben mit Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht“, erklärt Walpurga Antl-Weiser, die „Hüterin“ der Venus im NHM. Diese Deutung wird bis heute in den österreichischen Schulen gelehrt. Doch sie ist überholt.

Sendungshinweis

„Venus von Willendorf – Die nackte Wahrheit“: „Universum History“, 19.4., 21.05 Uhr, ORF2

Fakt ist: Die Venus von Willendorf ist aus Stein geschnitzt. Und dieser Stein hat eine weite Reise hinter sich. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Wien und des Naturhistorischen Museums kam zu dem Schluss, dass der Oolith, ein Kalksedimentgestein, aus dem die Figurine gefertigt wurde, wahrscheinlich entweder aus Italien oder der heutigen Ukraine stammt.

Nomadisches Leben versus Fruchtbarkeit

Das zeigt einmal mehr: Die steinzeitlichen Gesellschaften waren mobil. Sie zogen in kleinen, nomadischen Gruppen in einem weiteren Radius umher, den Tierherden folgend. Wer viel in Bewegung ist, muss mit leichtem Gepäck reisen – zu viele Kinder schränken die Mobilität ein. „Wir wissen heute, dass die Fruchtbarkeit der Frau nur bis zu einem gewissen Grad wünschenswert gewesen ist“, sagt Antl-Weiser.

Viele Kinder zu haben kann also kein Ziel gewesen sein, „sondern eher wenige Kinder, aber die dann durchzubringen“, führt Brigitte Röder, Prähistorikerin an der Uni Basel, aus. Dazu kommt, dass steinzeitliche Gesellschaften keine Ackerwirtschaft betrieben. Das Konzept der Fruchtbarkeit, wie es heute verstanden wird, könnte damals generell keine Rolle gespielt haben.

Auch die Deutung als Sexsymbol ist für die Wissenschaftlerinnen nicht schlüssig. „Diese erste Interpretation von vor 100 Jahren von Kollegen, die meinten, das ist ein Sexsymbol, kann man völlig ad acta legen. Die Darstellung ist etwas sehr in sich Gekehrtes, etwas Ruhendes und hat mit Sex wirklich wenig zu tun“, sagt die Prähistorikerin Sibylle Wolf von der Uni Tübingen.

Das Wissen und die Erfahrung der alten Frauen in Medizin und Ernährung waren wahrscheinlich  überlebenswichtig für die Gruppe
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Szenenfoto aus „Universum History“: Die „Frau von Willendorf“ symbolisierte eher die Großmutter als die Fruchtbarkeit

Die Auslegung der Venus als Fruchtbarkeits- und Sexgöttin ist also Resultat des gesellschaftlichen Rollenbildes des 19. Jahrhunderts – genauso wie der Begriff „Venus“ -, „als Nacktheit noch als sehr skandalös empfunden wurde“, sagt Röder. „Dieses Problem wurde entschärft, indem man die Figuren in die Nähe von antiken Göttinnen gerückt hat, die ja auch teilweise nackt dargestellt waren“, so die Prähistorikerin. Heute wird in der Wissenschaft die neutrale Bezeichnung „Frau von Willendorf“ verwendet.

Interpretation und Deutung im Wandel der Zeit

Wenn die berühmte Frau von Willendorf weder Sexsymbol noch Fruchtbarkeitsgöttin ist, was ist sie dann? Auch heute kann die Wissenschaft nur auf Basis von wenigen belegten Fakten Interpretationen anstellen – und genauso wie vor hundert Jahren spiegeln sich in diesen die Geschlechtervorstellungen der Gegenwart wider. „Viele Interpretationen bleiben Hypothesen, ohne verifiziert werden zu können. Und so sammeln wir manchmal mehrere Hypothesen, schaffen Szenarien und erzählen Geschichten, die die archäologischen Funde bestmöglich erklären“, erläutert Claudine Cohen, Wissenschaftshistorikerin an der EHESS in Paris.

Großmütter: Hüterinnen des Wissens

Cohen sieht in der Figurine eine Repräsentation der weisen, alten Frau – der Großmutter. An Skelettfunden aus dem Paläolithikum ist erkennbar, dass viele Frauen über das Klimakterium hinaus lebten. Ältere Frauen dürften hohes gesellschaftliches Ansehen genossen haben. Darauf deuten die „Schwestern“ der Venus hin – rund 130 weitere Darstellungen von Frauen aus Stein, die von Russland bis Frankreich gefunden wurden, in unterschiedlichen Größen und Ausformungen.

Die Großmütter gaben die Werte der Gruppe, ihr Wissen über Heilkräuter, Geburt und Nahrung an die nächste Generation weiter. „Sie haben somit eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Menschheit gespielt – nicht nur auf biologischer, sondern auch auf kultureller Ebene“, so Cohen. „Warum sollen ihnen zu Ehren nicht auch Figuren nach ihrem Ebenbild geformt worden sein?“

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Mehr als 130 „Schwestern“ wurden im Laufe der Zeit gefunden – von Russland bis Frankreich
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Mehr als 130 „Schwestern“ wurden im Laufe der Zeit gefunden – von Russland bis Frankreich
Muskelmarker beweisen, auch Frauen und Mädchen nutzten Speere zur Jagd
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Muskelmarker beweisen: Auch Frauen und Mädchen nutzten Speere zur Jagd
Die steinzeitlichen Gesellschaften lebten nomadisch. Das windgeschützte Donautal in der Wachau bot Schutz und reichlich Nahrung
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Die steinzeitlichen Gesellschaften lebten nomadisch. Das windgeschützte Donautal in der Wachau bot Schutz und reichlich Nahrung.
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Jagende Frauen: Ende der Steinzeitklischees

Während die Großmütter die Kinder auf das steinzeitliche Leben vorbereiteten, gingen die jungen Frauen mit den Männern auf Jagd. Auch das zeigen Skelettfunde. Muskelmarker an den Oberarmknochen lassen erkennen, dass Frauen mit Speeren hantiert, also genauso wie Männer Großwild gejagt haben. „Dieses wirklich hartnäckige Gerücht, das sich über Jahrzehnte hält, dass Frauen in der Höhle saßen und Männer Großwild jagten, ist so sicherlich nicht mehr haltbar“, sagt Wolf.

Allerdings standen Rentier und Co. eher selten auf der steinzeitlichen Speisekarte – im Alltag bestand die Nahrung vor allem aus Kleintieren wie Hasen und Geflügel, die mit Fallen gefangen wurden. Das Bild des heldenhaften Steinzeitmannes, der im Alleingang ein Mammut erlegt und der sorgenden Frau am Feuer bringt, gehört also auch endgültig in die Mottenkiste der Steinzeitklischees.