Putin mit General und Feldstecher
Sergei Savostyanov / Tass / picturedesk.com
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Verborgene Geschichte

Geschichte als Mittel der Politik

Geschichte, nicht zuletzt Zeitgeschichte, erlebt gerade wieder eine Konjunktur. Nicht nur, weil Zeitungsverleger in Sondernummern Abschnitte historischer Epochen als Seller entdeckt haben. Geschichte wird bis in die aktuelle Gegenwart in den Dienst der Politik genommen – siehe die Rückgriffe auf Geschichtserzählungen durch Russlands Präsident Wladimir Putin. Doch Zeitgeschichte muss gerade von den Demokratien noch aktiver in ‚Besitz‘ genommen werden, sagt der Zeithistoriker Oliver Rathkolb in einem Gastbeitrag für science.ORF.at. Es gelte, die „verborgene Geschichte“ zu bergen.

Den ersten großen öffentlichen Boom erlebte die Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Zeit der ersten Turboglobalisierung, als sich zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg innerhalb weniger Generationen in einer rasanten, fast kaum verkraftbaren Geschwindigkeit ökonomische, soziale und politische Strukturen veränderten und aufgrund der technologischen Entwicklung im Transportwesen (Eisenbahn, Dampfschiff) sowie in der Datenübertragung (Telegraf, Telefon) eine echte globale Wirtschaft in vielen Teilen der Welt entstand.

Bis zu einem gewissen Grad ist diese aggressive und massive Nationalgeschichtsschreibung nach dem Top-Down-Prinzip bis in den Schulunterricht auch eine Antwort auf die totale Überforderung der Menschen und politischen Entscheidungsträger durch die Turboglobalisierung, manche Experten sprechen zu Recht von einem „nervösen Zeitalter“.

Weder die Generalstäbe in Europa noch die politischen und diplomatischen Kabinette erkannten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, dass dieser aufgrund der vorhergegangenen Entwicklungen mit einer unglaublichen technologischen Wucht geführt und Teile der Welt in den Abgrund reißen würde. Die Spanische Grippe, die sich ab 1918 durch US-Truppentransporte aus Kansas über England nach Europa und Afrika weltweit verbreitete, sollte noch viel mehr Menschenleben fordern als die kriegerischen Auseinandersetzungen.

Geschichte im Dienst der Politik

Die ideologische Funktionalisierung von Geschichte(n) setzte sich in der Zwischenkriegszeit fort. Sowohl Benito Mussolini im faschistischen Italien als auch Hitler im nationalsozialistischen Deutschland und Österreich versuchten erfolgreich unter Rückgriff auf historische Konstruktionen, ihre militärischen Aggressionsziele zu rechtfertigen. Mussolini galt in Italien als „Erbe der imperialen Universalität Roms, des Romulus, der Gracchen, des Scipio, des Augustus, des Konstantin (…) der Fürst der Wiedergeburt Roms“.

Immer wieder befeuerte Mussolini selbst derartige Vorstellungen, die letztlich zu einer Mythenkonstruktion beitrugen. So sah er sich als zweiter Augustus, der durch den blutigen Aggressionskrieg gegen Abessinien ein neues Imperium Romanum etablieren wollte. Hitlers Antisemitismus und Rassismus wurde von einem biologistischen Diskurs des Verständnisses zwischen Geschichte und Nation getragen – voll mit pseudohistorischen Mythen und Thesen. Das ist auch einer der Gründe, warum bis zum heutigen Tag autoritäre Regime und Diktaturen versuchen, eine nationalistische Darstellung der eigenen Geschichte zu propagieren und zu kontrollieren.

Palazzo della Civilita Italiana
Alberto Pizzoli / AFP / picturedesk.com
Mussolinis Italien als Wiederauferstehung des alten Roms. Hier als Architektur im Stadtviertel EUR.

In diesem Sinne ist verborgene Geschichte jene kritische und reflexive Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen, die das jeweilige Herrschaftssystem mit allen Mitteln versucht zu unterdrücken, da diese verborgene Geschichte auch immer die parlamentarische Demokratiebewegung stützt.

Zirkulierende Geschichtsbilder

Seit vielen Jahren initiiere ich Meinungsumfragen – nicht nur in Österreich, sondern auch in Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn –, die eindeutig belegen, dass unkritische und nationalistische Geschichtsbilder insbesondere bei jenen Menschen vorhanden sind, die bereits autoritäre und antidemokratische Einstellungen sowie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit artikulieren.

Ganz deutlich zeigt sich das im Fall der Orban-Regierungen in Ungarn, aber auch in Polen, wobei es in Polen mehr Widerstände gibt als in Ungarn. Dadurch kann auch die These belegt werden, dass eine moderne und lebendige parlamentarische Demokratie seine eigenen dunklen Vergangenheiten permanent aufarbeiten muss. Rechtspopulistische Regime und Parteien hingegen zeigen eine klare Tendenz, Geschichte unkritisch und in nationalistischer Enge fortzuschreiben.

Aktive und positive Demokratiepolitik

Aus diesem Grund versuchte auch die Menschenrechtsorganisation Memorial, die 1988 von einer Gruppe um den Atomphysiker Andrej Sacharow noch zu Sowjetzeiten gegründet worden war, nach 1990/91 nicht nur die Tabuthemen der stalinistischen Verbrechen zu dokumentieren und aufzuarbeiten, sondern auch die menschenverachtende Stigmatisierung und Kriminalisierung der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in die Sowjetunion zurückgekehrten Kriegsgefangenen der Deutschen Wehrmacht und der verschleppten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Erinnerung zu rufen. Viele von ihnen wurden als potenzielle Kollaborateure in Prüf- und Filtrationslagern verhört und blieben nach 1945 häufig politisch stigmatisiert.

Kurz zusammengefasst: Kritische Geschichtspolitik gegenüber Verbrechen vergangener totalitärer Regime ist Teil einer aktiven und positiven Demokratiepolitik. Daher war mir klar, dass mit dem Verbot von Memorial durch das Putin-Regime der Schlussstein in Richtung aggressiver Diktatur ohne echte demokratische Teilhabe gesetzt wurde.

Der Autor

Oliver Rathkolb, geboren 1955, ist Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien und Autor von Standardwerken zur Zeitgeschichte Österreichs, etwa dem Band „Die Paradoxe Republik“ (Zsolnay). Zuletzt erschien von ihm eine Monografie über Baldur von Schirach (Molden Verlag).

Oliver Rathkolb 2020
Georg Hochmuth / APA / picturedesk.com

Die verborgene Geschichte heben

Verborgene Geschichten zu heben und neu zu analysieren kann im Fall von chauvinistisch-nationalistischen Rückblendungen ins 19. Jahrhundert und im Zuge einer Renationalisierung mit Großmachtanspruch Kriege und Diktaturen beflügeln und emotional aufheizen, wie das zuletzt Wladimir Putin umgesetzt hat. Nur ganz wenige Expertinnen und Experten haben sich ursprünglich mit seinen Geschichtskonstruktionen beschäftigt, obwohl Putin beispielsweise plötzlich den völlig unbekannten, in der Schweiz verstorbenen antibolschewistischen Philosophen Iwan Alexandrowitsch Iljin immer wieder zitierte.

Alle Werke Iljins (viele in deutscher Sprache, da seine Mutter Deutsche war) wurden neu aufgelegt. Er war, aus einer adeligen Familie stammend, Monarchist und bekannte sich später zum Faschismus und vertrat einen expansiven Panslawismus und betonte die Bedeutung und Macht der Russisch-Orthodoxen Kirche. Die westliche Demokratie hielt er für schädlich für Russland und propagierte für das neue Russland eine „erzieherische und wiedergebärende Diktatur“.

Iljin bewunderte Mussolini und unterstütze, damals in Deutschland lebend, Hitlers Machtergreifung 1933 und seine These des Judäo-Bolschewismus, wonach Juden den Bolschewismus unterstützen würden. Später warnte er vor dem Nationalsozialismus, ging in die Schweiz, akklamierte aber den Angriff auf Russland. Den Begriff Ukrainer schrieb er immer unter Anführungszeichen, da diese aus seiner Sicht Russen seien.

Aufmunitionierte Geschichtsbetrachtungen

Nicht nur bei Putins aggressiver Rede beim Sicherheitsforum in München 2007, sondern auch bei der Rezeption des großrussischen Fantasten hätte aufmerksamer zugehört und politisch gehandelt werden müssen. Iljin, der 1954 verstarb, liefert Putin spätestens seit 2005 das philosophische Unterfutter und die Rechtfertigung für die Annexion der Krim und den barbarischen Krieg gegen die Ukraine.

Hinweis:

Eine Langfassung des Artikels erscheint im Juni in der Absolventen-Zeitschrift „l’Archicube" der Ecole Normale Superieure“, Heft 32.

So bin ich der Meinung, dass derartige Vorzeichen künftig viel ernster genommen werden müssen, jedoch haben wir vergessen, wie sich Diktaturen in der Zwischenkriegszeit emotional durch nationalistische Geschichtskonstruktionen aufmunitioniert haben.

Wer die parlamentarische Demokratie fördern und am Leben erhalten möchte, muss immer wieder mit der eigenen Geschichte kritisch ringen und Mythen und Stereotype dekonstruieren. Nur dann leistet die Geschichtsforschung einen Beitrag zu den Maximen der Demokratie und Einhaltung der Menschenrechte, andernfalls verkommt sie zum Steigbügelhalter autoritärer und totalitärer Regime. Auch im Fall Chinas, wo zumindest 1,5 Millionen Menschen wegen oppositioneller Sichtweisen das Leben verloren haben und ebenso viele dauerhaft physisch geschädigt wurden, sollten westliche Demokratien ernsthafter hinsehen.