Psychische Erkrankungen

Neuer Leitfaden für stigmafreie Berichterstattung

Bei den „Volksleiden“ der psychischen Erkrankungen schlagen die Krankheit selbst und gesellschaftliche Stigmatisierung doppelt zu. Einen wesentlichen Anteil daran haben die Medien, hieß es Mittwochabend bei einem Hintergrundgespräch in Wien. Ein Leitfaden für stigmafreie Medienberichterstattung soll helfen.

Obwohl psychiatrische Erkrankungen sehr häufig sind, werden die Betroffenen oft Opfer von Stigmatisierung, zum Beispiel durch klischeehafte Medienberichterstattung. Deshalb hat die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP) in einem Projekt gemeinsam mit der Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter (HPE) und MedUni Wien in den vergangenen Jahren Aktivitäten verfolgt, welche eine möglichst Diskriminierungs- und Stigma-freie Darstellung fördern sollen.

Die oft von direkt Betroffenen und deren Angehörigen wahrgenommene Situation, so HPE-Geschäftsführer Edwin Ladinser: „Stigmatisierende Medienberichterstattung macht ‚etwas‘ mit den Betroffenen und deren Angehörigen. Jemand ist ‚anders‘ als die Anderen. Bei psychischen Erkrankungen ist das verheerend. Psychisch krank wird man, wenn man die Diagnose erhalten hat. Viele wenden sich nicht an einen Psychiater, weil sie nicht wollen, dass eine psychische Erkrankung bei ihnen festgestellt wird.“

Echte Volksleiden

Über der Problematik schwebt die fälschliche Ansicht vieler Menschen, dass psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen oder psychotische Erkrankungen „selten“ wären und immer nur „die Anderen“ beträfen. ÖGPP-Präsident Johannes Wancata hat mit einem Team vor wenigen Jahren durch eine Studie mit 1.008 für alle österreichischen Bundesländer repräsentativen Teilnehmern zwischen 18 und 65 Jahren durch Interview-Fachpersonal die Sachlage dokumentiert: "Die Ein-Monats-Prävalenz psychischer Erkrankungen (krank ein Monat vor der Erhebung; Anm.) liegt bei 18,7 Prozent (16,7 Prozent unter Männern, 20,6 Prozent unter Frauen; Anm.). Innerhalb des vorangegangenen Jahres hatten wir eine Prävalenzrate für psychische Erkrankungen von etwa 23 Prozent (22,7 Prozent Gesamtbevölkerung; Männer: 20,3 Prozent, Frauen: 25,1 Prozent).

Fazit dieser Studie: Psychische Erkrankungen sind nicht selten, sondern echte Volksleiden. Die allermeisten Betroffenen stehen zwar voll im Berufsleben, Diskriminierung und Stigmatisierung schädigen sie und ihre Angehörigen aber mehrfach. Gerade deshalb käme es darauf an, dass Medien möglichst Vorurteils- und Klischee-freie Darstellungen der Problematik bieten. Mit gutem Grund, meinte Thomas Niederkrotenthaler (MedUni Wien), der sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten auch speziell mit dem Einfluss von Medienberichten über Suizide beschäftigt: „Zum Beispiel werden in US-Kinder-TV-Programmen psychisch Kranke vor allem durch verzerrte Mimik dargestellt.“ Selbst bei Menschen, welche im persönlichen Umgang mit psychisch Kranken positive Erfahrungen aufwiesen, würden diese durch einseitige Mediendarstellungen übertrumpft werden, hätte eine US-Studie ergeben. Zurückhaltende und einfühlsame Berichterstattung hätten hingegen nachgewiesen positive Effekte.

Eines von vielen Merkmalen

Produkte des Projektes von ÖGPP und HPP in Zusammenarbeit mit der MedUni Wien sind zwei Dokumente: 24 Seiten umfassende „Empfehlungen zur Berichterstattung über psychische Erkrankungen“ sowie eine quasi-Schreibtischversion „Stigmafrei kompakt – Informationstool für Medienschaffende“. Die Präsentation fand im Vorlauf zur Jahrestagung der ÖGPP (28. bis 30 April; Wien) statt.

Ein Grundsatz für journalistische Berichterstattung in Sachen psychischer Erkrankungen liegt einfach darin, die Krankheit selbst als eines vieler Merkmale von Menschen zu betrachten. „Ich bemühe mich, nicht jeden Menschen als psychisch krank, sondern als Mensch zu sehen“, sagte Martin Aigner, Leiter der psychiatrischen Abteilung am Krankenhaus Tulln (NÖ). Man „habe“ eine psychische Erkrankung als Betroffener, man „sei“ diese aber nicht. Ähnlich wie physische Krankheiten nur einen Teil des Organismus beträfen, sei das auch bei psychischen Leiden so.