Provisorisches Krankenhaus während der Spanischen Grippe 2018 in den USA
AP/Edward A. „Doc“ Rogers via Library of Congress
AP/Edward A. „Doc“ Rogers via Library of Congress
Erbgutanalyse

Saisonale Grippeviren stammen von Pandemie 1918

Die jährliche Grippewelle könnte eine direkte Folge der Spanischen Grippe im 20. Jahrhundert sein. Forscher haben über 100 Jahre alte Gewebsproben – unter anderem aus dem Wiener Narrenturm – untersucht und fanden im Virenerbgut auch mögliche Hinweise, was die Grippe damals so gefährlich machte.

Die Spanische Grippe war die tödlichste Pandemie des 20. Jahrhunderts. In der Zeit zwischen 1918 und 1920 gab es drei große Krankheitswellen und zahlreiche Opfer. Expertinnen und Experten schätzen, dass 50 bis 100 Millionen Menschen weltweit an den Folgen des besonders ansteckenden Influenzavirus gestorben sind.

Wie sich die gefährlichen Grippeviren aber während der damaligen Pandemie und in der Zeit danach entwickelt haben, ist heute nur schwer bestimmbar. Während SARS-CoV-2 aufgrund der technischen Möglichkeiten schon jetzt millionenfach sequenziert wurde, gibt es vom Virus der Spanischen Grippe kaum noch gut erhaltene Proben.

Weiteres Genom rekonstruiert

Ein internationales Forscherteam um Sébastien Calvignac-Spencer vom deutschen Robert Koch-Institut hat nun einen großen Beitrag zur Datenlage rund um die Spanische Grippe geleistet. Das Team hat insgesamt 13 Lungengewebsproben aus Deutschland und Österreich aus der Zeit der damaligen Pandemie näher unter die Lupe genommen. Aus einem Lungenpräparat der Charité in Berlin konnten sie das Virenerbgut komplett sequenzieren, bei zwei weiteren Proben teilweise.

Gewebsproben in der Charité Berlin
Navena Widulin, Berlin
Gewebsproben im medizingeschichtlichen Museum der Charité Berlin

„Als wir unsere Arbeit begonnen haben, gab es weltweit nur 18 andere sequenzierte Virengenome, nur zwei davon waren komplett“, so Calvignac-Spencer bei einer Pressekonferenz, in der er mit dem Virologen Thorsten Wolff, ebenfalls vom Robert Koch-Institut, die Studienergebnisse präsentierte.

Die untersuchten Proben aus Österreich stammten aus der pathologisch-anatomischen Sammlung des Naturhistorischen Museums Wien im Wiener Narrenturm. Darin fand das Team aber kein brauchbares Virenerbgut.

Erste Daten aus Europa

Mit dem – laut eigenen Angaben – ersten vollständig rekonstruierten Genom der Spanischen Grippe aus Europa, haben die Expertinnen und Experten untersucht, welche Unterschiede es zu den bisher gesammelten Proben aufweist. Die meisten davon stammen aus den Vereinigten Staaten.

Darüber hinaus sei es auch das erste Genom der Spanischen Grippe, das aus einer Zeit vor dem ersten Höhepunkt der damaligen Pandemie stammt. Das Team konnte daher durch einen Vergleich mit jüngeren Proben untersuchen, wie sich das tödliche Virus im Lauf der Pandemie verändert haben könnte. Schon länger wird angenommen, dass moderne H1N1-Influenzaviren zumindest zu einem gewissen Teil vom damaligen H1N1-Virus abstammen.

Das Ergebnis der Untersuchungen präsentieren die Forscherinnen und Forscher nun im Fachmagazin „Nature Communications“. Aufgrund der immer noch sehr kleinen Menge an weltweiten Proben, sei es laut den Experten aber ein Fehler, die neu aufgestellten Hypothesen als unumstößlich anzusehen. Weitere Proben und Untersuchungen seien nötig, um die Ergebnisse genauer zu überprüfen.

Direkte Abstammung möglich

Anhand der Erbgutanalysen hat das Team ein Modell erstellt, das zeigt, wie sich die Spanische Grippe seit dem Höhepunkt der tödlichen Pandemie 1918 entwickelt haben könnte. Die Forscher nutzten dafür eine Methode (Molekulare Uhr), mit der sie den Zeitpunkt der Aufspaltung zweier Virenarten von einem gemeinsamen Vorfahren abschätzen können.

Dabei fanden sie Hinweise darauf, dass die moderne saisonale H1N1-Grippe nicht nur zum Teil, sondern sogar komplett von dem Influenzavirus der Spanischen Grippe abstammen könnte. Alle Segmente des Genoms moderner H1N1-Grippeviren könnten demnach vom damaligen Virenstamm herrühren. „Damit widersprechen wir bisherigen Vermutungen, dass saisonale Viren durch eine Vermischung unterschiedlicher Virengenome entstanden sind“, so Calvignac-Spencer.

Mutationen schützen vor Immunreaktion

Bevor es für Menschen gefährlich wurde, war das H1N1-Influenzavirus vor allem in Vögeln zu finden. Wie es das Virus aber geschafft hat, das menschliche Immunsystem zu umgehen und für so viele Tote zu sorgen, war bisher kaum erforscht. Ein Vergleich der Proben vor dem ersten Pandemiehöhepunkt und einem bereits vorhandenen Genom aus der Zeit danach lieferte aber eine mögliche Erklärung dafür.

Im Virengenom aus den USA fanden die Forscherinnen und Forscher zwei Mutationen an einem Eiweißstoff, die das Erbgut der Grippeviren aus der Hauptwelle wohl besser vor dem menschlichen Immunsystem schützten als die Viren davor. Ein weiteres Enzym, das für die Vermehrung des Erbguts mitverantwortlich ist, war außerdem aktiver als bei der Probe aus Berlin. Das Virus habe sich also im Lauf der Pandemie an dessen neue Opfer angepasst und das Erbgut für die Vermehrung in menschlichen Zellen optimiert.

Kaum Vorhersagen möglich

Die Forscher fanden auch Hinweise darauf, dass die Spanische Grippe in gewissen Punkten ähnlich wie die aktuelle Covid-19-Pandemie verlief. Damals wie heute habe es Krankheitswellen gegeben, die im Fall der Spanischen Grippe ihren Höhepunkt im Herbst 1918 erreichten. Die DNA-Sequenzen würden außerdem zeigen, dass die Spanische Grippe vor allem durch lokale Ansteckung kursierte, in manchen Fällen wanderten die Viren aber auch weitere Entfernungen.

Die anhaltende SARS-CoV-2-Pandemie zu sehr mit der Spanischen Grippe zu vergleichen, sei laut Wolff jedoch ein Fehler: „Coronaviren und Influenzaviren gehören ganz anderen Virenfamilien an. Sie sind also nicht miteinander verwandt und unterscheiden sich daher auch in einigen Bereichen.“ So sei es bei Coronaviren häufig der Fall, dass sie von ansteckenderen Viren der gleichen Familie verdrängt werden. Bei Influenzaviren konnten die Forscher jedoch keine Hinweise auf einen solchen Vorgang finden.

Saisonale Krankheitswellen möglich

Dennoch sei es in Zukunft eventuell möglich, Parallelen zwischen der Spanischen Grippe und der CoV-Pandemie zu finden. Derzeit sei die Datenlage zu den H1N1-Influenzaviren aus dem 20. Jahrhundert aber zu karg, um garantiert korrekte Vorhersagen zu treffen. Der Erhalt und die Erforschung der noch existierenden Proben müsse daher verbessert werden, so die Forderung der Forscherinnen und Forscher.

Eine Sache, die anhand der Studienergebnisse aber trotzdem auch für die anhaltende CoV-Pandemie gelten könnte: „Man kann wahrscheinlich davon ausgehen, dass uns auch Coronaviren noch sehr lange – wahrscheinlich saisonal – begleiten werden. Wie lange die Krankheitssaisonen dann dauern und wann sie stattfinden, wird sich aber erst noch zeigen“, erklärt Wolff.