Eine Fahne der SPÖ mit den drei Pfeilen liegt auf dem Boden
ORF/JOSEPH SCHIMMER
ORF/JOSEPH SCHIMMER

„Inländervorrang“ und Internationalismus

Seit ihrer Gründung 1889 hat sich die österreichische Sozialdemokratie der „internationalen Solidarität“ verschrieben. Dennoch versuchte sie mitunter schon vor 1914, einheimische Arbeiter gegenüber fremden zu bevorzugen. Wie sich „Inländervorrang“ und Internationalismus vertrugen, beschreibt die Historikerin Theresa Gillinger in einem Gastbeitrag.

In der Habsburgermonarchie, wie in anderen europäischen Ländern, wurde „Arbeit“ seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zur Staatsangelegenheit. Die Produktivität der Bevölkerung wurde als bedeutend für das Wohlergehen des Staates angesehen. Die Armut der Bevölkerung sollte daher unter staatliche Kontrolle gestellt werden. Den Gemeinden wurde die Armenversorgung unterstellt, was die Wurzel des Heimatrechts bildete und eine Unterscheidung in „Einheimische und Fremde“ zur Folge hatte.

Porträtfoto Historikerin Theresa Gillinger
IFK

Über die Autorin

Theresa Gillinger schreibt an ihrer Dissertation in Geschichte an der Universität Wien und ist aktuell IFK_Junior Fellow.

Vortrag

Sie hält am 16. Mai 2022, 18:15 Uhr, den Vortrag „‘Wandernde Arbeiter*innen‘ und die österreichische Sozialdemokratie vor 1914“ am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuniversität Linz in Wien.

Arbeit wurde im 19. Jahrhundert klarer definiert, normiert und institutionalisiert. Tätigkeiten ohne fixen Standort, Betrieb, Arbeitsplatz oder Wohnort wurden oft verdächtig, nicht richtige Arbeit(suche), sondern nur Deckmantel für Arbeitsscheu oder Kriminalität zu sein. Auseinandersetzungen über Arbeit, die mit ihr verknüpften neuen sozialen Rechte und die damit einhergehende staatliche Verwaltung veränderten auch die Möglichkeiten von Mobilität und Sesshaftigkeit, brachten derartige umstrittenen Lebensunterhalte und Erwerbe ohne stabilen Standort jedoch nicht zum Verschwinden.

Viele Erwerbstätigkeiten waren und sind noch heute mit Mobilität verbunden, man denke an Saisonarbeiter:innen, in temporären Bauprojekten beschäftigte Arbeiter:innen oder Dienstbot:innen (heute 24-Stunden-Pflege).

Sozialdemokratie und mobile Arbeiter:innen

Wie auch heute waren bereits in der späten Habsburgermonarchie mobile Arbeiter:innen in instabile und prekäre Arbeitsverhältnisse eingebunden. Große Bauprojekte waren auf zuwandernde, saisonale Arbeitskräfte angewiesen. Politische und mediale Diskurse waren durchzogen von Xenophobie, also Fremdenfeindlichkeit.

In meinem Dissertationsprojekt analysiere ich die politische Rhetorik jener Partei, die seit ihrer Vereinigung 1888/89 und aktiven Partizipation in politischen Gremien, internationale Solidarität über Grenzen hinweg für die wachsende Arbeiterklasse propagierte. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs forderte in ihrem Programm von 1901 im vierten Punkt die „Aufhebung aller Einschränkungen der Freizügigkeit, insbesondere aller Vagabunden- und Schubgesetze“.

„Inländervorrang“ wie bei Christlich-Sozialen?

Am 2. Juni 1908 richtet der sozialdemokratische Abgeordnete Josef Seliger (1870-1920) eine Interpellation an den Minister des Inneren und den Ackerbauminister. Er kritisierte die Entlassung „einheimischer Arbeiter“ zu Gunsten von „Italienern und Kroaten“: „Sind sie geneigt, ehestens einen Gesetzesentwurf dem Abgeordnetenhause vorzulegen, durch den bestimmt wird, dass bei staatlichen Bauten und Unternehmungen und solcher, die von öffentlichen Körperschaften angeführt werden, heimische Arbeiter beschäftigt werden müssen, sofern sie hierfür hinreichend qualifiziert sind und nicht nachweisbar Mangel an solchen heimischen Arbeitern zu verzeichnen ist?“

Zwei Auffälligkeiten sind an dieser Interpellation festzumachen. Erstens ist nicht klar erkennbar, wer mit „einheimischen Arbeitern“ gemeint ist (kroatische Arbeiter:innen könnten aus Dalmatien, italienische aus Südtirol oder dem Küstenland, also dem „Inland“ kommen). Zweitens erinnert diese Anfrage stark an einen Grundsatz der Christlichsozialen Partei, „dem Schutz der heimischen Arbeit“. Insbesondere bei Vergabe öffentlicher Arbeiten forderte die Christlichsoziale Partei vor 1914 in zahlreichen Anträgen und Interpellationen einen „Inländervorrang“ und einen „Schutz heimischer Arbeit“.

Ambivalente Haltung und Rhetorik

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei war vor 1914 zwar nie an der Regierungsmacht, jedoch oppositionell in Gremien wie dem Wiener Gemeinderat, Niederösterreichischen Landtag oder Abgeordnetenhaus des Reichsrats vertreten. In ihrer Opposition zu den regierenden Christlichsozialen kritisierten die deutschsprachigen Sozialdemokrat:innen massiv einige Forderungen der Christlichsozialen Partei, die die Mobilität von Arbeiter:innen einschränkten. Beispiele dafür bilden die fünfjährige Sesshaftigkeitsklausel im Wahlrecht und die Abschaffung von Naturalverpflegestationen (Herbergen für zumeist männliche wandernde Arbeiter, wo Stellenausschreibungen bekanntgegeben wurden).

Die Sozialdemokratie verurteilte eine Gleichsetzung von Vagabundage, “Arbeitsscheue“, Arbeitslosigkeit und Arbeitssuche, die zu dieser Zeit im politischen Diskurs verbreitet war. Die Existenz von „Arbeitsscheuen“ und Vagabundismus wurde dabei aber nicht verneint. Interessant scheint, dass das Ideal einer sesshaften Arbeit auch von Sozialdemokrat:innen in gewisser Weise übernommen wurde. Umherziehen, um Arbeit zu suchen, wurde auf die kapitalistische Wirtschaft zurückgeführt. Aufgrund von Armut wären Arbeiter:innen dazu gezwungen gewesen mobil zu sein.

Ich möchte durch meine Forschung aufzeigen, wie und welche Mobilität von Arbeiter:innen durch die Sozialdemokratie tatsächlich unterstützt wurde oder nicht und welche Diskriminierungsmechanismen in deren Rhetorik zum Ausdruck kamen. Dabei kritisiere ich die ambivalente Haltung und Rhetorik der deutschsprachigen Sozialdemokratie in konkreten Debatten um Institutionen und Maßnahmen, die die Mobilität von Arbeiter:innen einschränkten und/oder förderten.