Satue von Margareth Thatcher in Grantham, Lincolnshire
AFP/PAUL ELLIS
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Wertvorstellungen

Neoliberalismus veränderte Gerechtigkeitsempfinden

Was jeder und jede einzelne als gerecht oder fair empfindet, hängt auch von der Gesellschaft ab. Wie die dominante Ideologie solche persönlichen Werte im Lauf der Zeit verändern kann, zeigt eine Studie am Beispiel des Neoliberalismus.

Der Siegeszug des Neoliberalismus begann vor mehr als 40 Jahren in Großbritannien, als Premierministerin Magaret Thatcher mit ihrer Politik das Ende des britischen Wohlfahrtsstaats einläutete. In den USA startete die neoliberale Wende mit Ronald Reagan nur kurze Zeit später. Das Programm: Weniger Staat, weniger Steuern und Sozialleistungen, dafür freie Märkte, mehr Wettbewerb und Eigenverantwortung.

Mittlerweile hat der sozioökonomische Umbau nicht nur westliche Demokratien erfasst, die Ideen haben sich in Form der globalen Marktwirtschaft über den ganzen Globus verbreitet. Auch wenn sich die kritischen Stimmen spätestens seit Beginn der Pandemie mehren und wieder mehr Regulierungen und staatliche Eingriffe fordern, noch hat der Neoliberalismus die Oberhand.

Dass die Ideen weit über den wirtschaftlichen Umbau hinausgehen, war dabei von Anfang an klar. Es ging und geht immer auch um die grundlegende Weltanschauung – wie Thatcher in einem ihrer berühmten Zitate deutlich machte: „So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien. Keine Regierung kann existieren, ohne dass die Menschen zunächst für sich selbst sorgen.“

Was ist gerecht?

Wie die Forscherinnen und Forscher um Shahrzad Goudarzi von der New York University festgestellt haben, dürfte die neoliberale Wende nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch bei jedem und jeder einzelnen Spuren hinterlassen haben. „Unsere Institutionen, die Politik und Gesetze prägen nicht nur unser Sozialleben, sie haben auch großen Einfluss darauf, welche Menschen wir sind“, so Goudarzi in einer Aussendung zu der heuer im Fachmagazin „Perspectives on Psychological Science“ erschienenen Studie.

Im Mittelpunkt der Arbeit steht das Gerechtigkeitsempfinden. Wie die Studienautorinnen und -autoren zu Beginn argumentieren, fallen solche Haltungen und Einstellungen nicht vom Himmel, sie sind immer ideologisch oder vom Kontext geprägt. Die heute dominierende Vorstellung zur Verteilungsgerechtigkeit sei eine von Geben und Nehmen: Wer mehr reinsteckt oder leistet, bekommt mehr raus, Stichwort Leistungsgesellschaft.

Gerechtigkeit könnte aber auch darin bestehen, dass alle grundsätzlich das Gleiche bekommen, ein Beispiel dafür wäre das Grundeinkommen, oder dass jene am meisten bekommen, die es am dringendsten brauchen, heißt es in der Studie. Was jemand gerade als fair empfindet, hänge immer auch von anderen Einflussfaktoren ab, etwa vom Beziehungskontext oder von der Kultur, in der jemand lebt.

Wirtschaft und Werte

Konkret untersucht haben die Forscherinnen und Forscher dann, ob sich das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen in den vergangenen 25 Jahren (1995-2019) unter dem Einfluss des Neoliberalismus global verändert hat. Dazu hat das Team auf verschiedene Datensätze zurückgegriffen. Um den Grad der Neoliberalisierung zahlenmäßig zu fassen, wurde der „Economic Freedom Index“ verwendet. Dieser wird jährlich vom kanadischen Fraser Institute veröffentlicht, ein konservativer Thinktank. 160 Länder werden darin erfasst. Er umfasst unterschiedliche Kennzahlen zur wirtschaftlichen Freiheit. Für ihre Analyse haben die Studienautoren jene Kennzahlen herangezogen, die mit neoliberalen staatlichen Strukturen in Zusammenhang stehen, etwa wie hoch die Steuern sind oder welche Formen der staatlichen Unterstützung es gibt.

Für die Einstellungen zur Fairness wurde der “World Values Survey“. Alle paar Jahren werden darin in Befragungen die Werte der Menschen in verschiedenen Ländern erhoben, die jüngste Version wurde in 80 Staaten durchgeführt. Zum Gerechtigkeitsempfinden müssen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen unter anderem auf einer Skala angeben, wie sehr sie z.B. mit folgenden Aussagen übereinstimmen „Einkommensunterschiede sind ein Anreiz, sich anzustrengen“ oder „Alle sollten das Gleiche verdienen“.

Passende Menschen

Die Analyse ergab, dass dort, wo der Neoliberalismus ausgeprägter ist, Einkommensunterschiede nur kurze Zeit später – laut Studie in nur vier Jahren – eher akzeptiert bzw. gutgeheißen werden, diese globale Tendenz legen jedenfalls die statistischen Korrelationen zwischen Neoliberalismus-Index und Wertestudie nahe. Wie Shahrzad Goudarzi gegenüber science.ORF.at betont, lasse sich der statistische Zusammenhang nicht so einfach auf einzelne Staaten runterbrechen, aber im Datensatz seien natürlich auch Großbritannien und die USA enthalten – die zwei Paradebeispiele für Neoliberalismus.

Laut den Forscherinnen und Forschern können neoliberal ausgerichtete Institutionen offenbar die Psyche des einzelnen beeinflussen und sozusagen für das Gesellschaftsmodell passend machen. „Institutionen können entweder Wohlbefinden und Solidarität fördern oder aber Wettbewerb, Individualismus und Hierarchie“, so Goudarzi. Und das kann laut den Berechnungen recht schnell gehen, schon innerhalb weniger Jahre könne sich das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen ändern.

Keine universalen Vorstellungen

Einen umgekehrten Zusammenhang konnten die Forscherinnen jedenfalls nicht feststellen. „Wir hätten erwartet, dass sich geänderte Gerechtigkeitsvorstellungen wiederum einige Jahre später im politischen System niederschlagen, das war aber nicht der Fall“, erklärt Goudarzi.

Wie die Goudarzi und Co. am Ende ihrer Studie betonen, unterstreichen die Ergebnisse, dass die Vorstellung davon, was fair ist, keineswegs angeboren oder so universal ist, wie das mitunter sogar psychologische Studien nahelegen – die allerdings meist in westlich geprägten Industrienationen durchgeführt wurden und werden. Heute seien solche Überzeugungen nur vielorts geprägt von einer neoliberalen und eurozentristischen Weltsicht.