Judy Norsigian, Mitgründerin „Our Bodies, Ourselves“, National Press Club in Washington D.C., Oktober 2012
AFP
AFP
„Our Bodies, Ourselves“

Der endlose Kampf der Frau um ihren Körper

Das Recht jeder Frau, über ihren Körper zu bestimmen, wird durch tief in der Gesellschaft verwurzelte patriarchale Strukturen auch 2022 noch infrage gestellt, wie etwa die aktuelle Abtreibungsdebatte in den USA zeigt. Nicht zuletzt deshalb sei der 1971 erstmals erschienene feministische Bestseller „Our Bodies, Ourselves“ immer noch aktuell, sagt die Anthropologin Anne Raulin im Interview.

Für 75 Cent pro Stück verteilte eine Gruppe Frauen Anfang der 1970er Jahre in Boston eine 193-seitige Broschüre über sexuelle Gesundheit und Selbstbestimmtheit. Die Herausgeberinnen hatten einander kurz zuvor bei einer Veranstaltung der Frauenbewegung kennengelernt und festgestellt, dass sie viele Erfahrungen teilen: Besuche beim Frauenarzt etwa, bei denen ihnen Informationen verwehrt und sie sexistisch und bevormundend behandelt wurden.

Die Broschüre, in der damalige Tabuthemen wie Selbstbefriedigung, Homosexualität und Schwangerschaftsabbrüche – die zu dieser Zeit in den gesamten USA noch illegal waren – thematisiert wurden, war so erfolgreich, dass nur ein Jahr später, 1972, ein Buch daraus wurde: „Our Bodies, Ourselves“ („Unser Körper, unser Leben“). Die Autorinnen nannten sich nun „Boston Women’s Health Book Collective“. Ihr Ziel war es, Frauen durch Informationen in ihrer Selbstbestimmtheit zu stärken – und so auch deren medizinische Versorgung zu verbessern.

Gründerinnen „Our Bodies, Ourselves“
Our Bodies, Ourselves
Die Gründerinnen des „Boston Women’s Health Book Collective“, Anfang der 1970er Jahre

Das „Time Magazine“ nahm „Our Bodies, Ourselves“ 2011 in die Liste der 100 besten englischsprachigen Sachbücher auf. Die Library of Congress präsentierte es 2012 in der Ausstellung „Books that Shaped America“. Auch in der Erfolgsserie „Wunderbare Jahre“ hatte „Our Bodies, Ourselves“ einen Gastauftritt: als Hauptfigur Kevin und sein bester Freund Paul das Exemplar seiner großen Schwester stibitzen und es heimlich im Kinderzimmer lesen.

„Meine Bibel“

Nicht nur die „New York Times“ nannte das Buch „die Bibel für Frauengesundheit“, über die Jahrzehnte bezeichneten es auch viele Frauen als „meine Bibel“, erzählt Anne Raulin im Gespräch mit science.ORF.at. Eine Bezeichnung, die die französische Anthropologin, die die französischsprachige Erstausgabe des Buches – „Notre corps, nous-mêmes“ – übersetzte, durchaus passend findet.

Anne Raulin
Anne Raulin, Jan Dreer für IFK

Anne Raulin ist derzeit Senior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK). Am 23. Mai um 18.15 Uhr hält sie einen Vortrag am IFK über das Buch „Our Bodies, Ourselves“, der auch via Zoom zu sehen ist.

Das Buch sei einerseits ein Lehrbuch mit grundlegenden Informationen über die weibliche Anatomie, über das Gesundheitswesen und den Umgang damit. „Erste Lektion war, Körperteile und Vorgänge im Körper präzise zu benennen, nicht zuletzt, um für Diskussionen mit Ärzten gewappnet zu sein.“ „Our Bodies, Ourselves“ habe andererseits ein zutiefst ideologisches Ansinnen: „Es vertritt und verteidigt einen feministischen Zugang zur Frauengesundheit.“

Der für Raulin wichtigste Aspekt ist, dass darin Frauen aller Altersgruppen, aus den verschiedensten Kulturen und – zumindest in den neueren Ausgaben – mit den verschiedensten sozialen Hintergründen eine Stimme gegeben wird: „Sie sprechen über das Intimste, über die Beziehung zu ihrem Körper. Und sie vermitteln, dass es nicht die eine vorgefertigte Lösung für Probleme und Erwartungen gibt.“

„Gericht ignoriert Wissenschaft“

Auffallende kulturelle Unterschiede zur US-amerikanischen Ausgabe bemerkte Raulin in den 1970er Jahren, als sie die US-amerikanische Erstausgabe ins Französische übersetzte, nicht. Einzig das Gesundheitssystem sei in den USA ein völlig anderes gewesen als in Frankreich, wo es bereits viele Gynäkologinnen gab, die der Frauenbewegung ebenfalls nahestanden. „Ansonsten spürte ich großteils Gemeinsamkeiten. Als junge Frauen gehörten wir damals derselben Gegenkultur an, kämpften gemeinsam für das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche.“

Ein Kampf, der rund 50 Jahre später in vielen Ländern der Welt nicht ausgefochten ist, auch nicht in den USA. Schon in den vergangenen Jahren wurde das 1973 getroffene Grundsatzurteil „Roe vs. Wade“ von immer mehr US-Bundesstaaten außer Kraft gesetzt. Dieses besagt, dass eine schwangere Frau das Recht auf einen Abbruch hat. Anfang Mai hatte das Magazin „Politico“ einen vertraulichen Urteilsentwurf veröffentlicht. Diesem ist zu entnehmen, dass der Oberste Gerichtshof kurz davor steht, das Grundsatzurteil von 1973 zu kippen.

Protestmarsch in Washington, D. C., Schwangerschaftsabbruch, Abtreibugn, Roe vs. Wade, Demonstration
AP
Ein Protestmarsch gegen die Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen Mitte Mai in Washington

Die Proteste dagegen häufen sich derzeit im ganzen Land. Und das Fachjournal „Science“ titelte Mitte Mai ein ungewohnt politisches Editorial mit „Das Gericht ignoriert die Wissenschaft“. Die Richterinnen und Richter des Supreme Court „ignorieren zahlreiche Belege für die positiven Auswirkungen eines Schwangerschaftsabbruchs auf die Gesundheit und das Wohlergehen von Patientinnen“, heißt es darin.

„Es ist ein ständiger Kampf“

Derlei Rückschläge im Kampf um Frauenrechte seien erschütternd, sagt Raulin, der Status von Befreiung und Rechten nie stabil. Dennoch: „Es ist zwar ein ständiger Kampf, Frauen haben heute aber mehr Rechte als früher. Gerade in den vergangenen Jahren haben weltweite Bewegungen wie #MeToo die Art und Weise, wie die Gesellschaft Frauen und deren Körper betrachtet, nachhaltig verändert.“

Nancy Miriam Hawley (2007), Mitgründerin des Boston Women’s Health Book Collective, „Our Bodies, Ourselves“, „Unser Körper unser Leben“
AP
Nancy Miriam Hawley, Mitgründerin des „Boston Women’s Health Book Collective“, 2007 mit verschiedenen Ausgaben von „Our Bodies, Ourselves“

Zwischen den 1980ern und 2010 habe es ein langes Vakuum gegeben, so die Anthropologin, „sehr lange, leere Jahrzehnte“, in denen im Feminismus nicht viel geschehen ist. In den letzten Jahren habe sich dafür sehr viel getan: „Es wird international gegen Femizide und alle Formen von Gewalt gegen Frauen im privaten und öffentlichen Raum mobilisiert. Das Bewusstsein dafür war in der Frauenbewegung schon in den 1970er Jahren da. Heute ist es überall: in der Gesellschaft, in den Medien, in den sozialen Netzwerken, im Fernsehen. Das macht einen großen Unterschied.“

„Our Bodies, Ourselves“, Broschüre, 1971
Our Bodies, Ourselves
Die Erstausgabe von 1971

"Cisgender, „revenge porn“, „male gaze“

Dass „eine internationale Kultur“ entstanden ist, zeige sich auch in der letzten Ausgabe von „Our Bodies, Ourselves“, die 2020 auf Französisch herauskam. Vergleicht man diese mit der französischen Erstausgabe von 1977, sei der Unterschied überraschend gering, sagt Raulin: „Der Ton ist bemerkenswert gleich geblieben. Aber natürlich wurde sehr viel hinzugefügt, vor allem was die Diversität der Stimmen betrifft: schwarze Frauen, asiatische Frauen, nordafrikanische Frauen, die in Frankreich leben und Französinnen sind. Frauen mit Behinderung kommen zu Wort, ebenso Transgender- und asexuelle Menschen.“

Auch im Vokabular gab es Ergänzungen: von „cisgender“ über „revenge porn“ bis zu „male gaze“ – Begriffe, die allesamt nicht ins Französische übersetzt wurden, so Raulin. Zudem gebe es in der aktuellen „Notre corps, nous-mêmes“-Ausgabe viele Hashtags und Hinweise auf Websites.

Weiter aktiv, aber online

Gerade das Internetzeitalter machte es dem „Boston Women’s Health Book Collective“ schwerer, weiterhin Bücher zu produzieren. Denn vieles, wofür Frauen früher zu einer Ausgabe von „Our Bodies, Ourselves“ griffen, finden sie heute mit ein paar Klicks am Smartphone. 2018 gab das „Boston Women’s Health Book Collective“ bekannt, keine weiteren Auflagen von „Our Bodies, Ourselves“ mehr zu veröffentlichten – unter anderem aus finanziellen Gründen.

Gleichzeitig startete die Gruppe aber eine Zusammenarbeit mit dem Center for Health & Human Rights der Suffolk-Universität in Boston mit dem Ziel, eine digitale Plattform zu schaffen, die aktuelle und umfassende Informationen zu Gesundheit, Sexualität und Wohlergehen von Mädchen, Frauen und Transgender bietet. Diese soll unter dem Namen „Our Bodies Ourselves Today“ noch in diesem Frühsommer starten.