Frau mit langen Haaren von hinten und Blätter – alles etwas verwackelt
Arndt Vladimir/stock.adobe.com
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Wahrnehmung

So „normal“ sind Halluzinationen

Wer Gesichter sieht, die gar nicht da sind, oder Stimmen hört, obwohl niemand spricht, muss sich nicht gleich Sorgen um seinen Geisteszustand machen. Halluzinationen sind erstaunlich häufig: Bis zu 15 Prozent aller Menschen riechen, sehen, fühlen oder riechen manchmal Dinge, die nicht real sind. Eine Studie hat die alltäglichen Sinnestäuschungen nun genauer analysiert.

„Sehe ich Geister?“ („Zie ik spoken?“) – unter diesem Motto riefen niederländische Psychologinnen und Psychologen um Mascha M. J. Linszen von der Universität Utrecht vor einigen Jahren zu einer Onlineumfrage auf. Gesucht waren Personen, die schon einmal Halluzinationen erlebt hatten – d.h., Dinge gehört, gesehen, gefühlt oder gerochen hatten, die nicht wirklich da waren.

Damit wollte das Team unter anderem öffentliche Aufmerksamkeit für derlei Sinnestäuschungen erzeugen, die oft mit psychiatrischen oder neurologischen Krankheiten in Zusammenhang gebracht wird. Dabei sei das Phänomen gar nicht so selten und betreffe auch Gesunde, schreiben die Forscherinnen und Forscher in einer kürzlich im Fachmagazin „Schizophrenia“ erschienenen Studie, für die sie die gesammelten Daten ausgewertet haben: Geschätzte sechs bis 15 Prozent der Bevölkerung dürften ab und zu eine solche Fehlwahrnehmung erleben.

Entsprechend rege war auch das Interesse an der Umfrage, die unterschiedliche Ausprägungen des Phänomens sowie Unterschiede zu pathologischen Formen ans Licht brachte. Von September 2016 bis Mai 2017 nahmen mehr als 10.400 Personen (fast 70 Prozent waren weiblich) im Alter von 14 bis 88 Jahren daran teil.

Häufiges Phänomen

80 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten mindestens einmal im Leben eine Halluzination erlebt, die Hälfte sogar im vergangenen Monat und ein Drittel in der vorangegangenen Woche. Natürlich könne man daraus keine Rückschlüsse auf die Allgemeinbevölkerung ziehen, betonen die Autoren. Die Stichprobe war nicht repräsentativ und es haben vermutlich eher Personen reagiert, die Erfahrungen mit Sinnestäuschungen hatten. Dennoch habe die Auswertung neue Erkenntnisse zur Natur von Fehlwahrnehmungen geliefert.

Am häufigsten sind demnach akustische Halluzinationen: Ein Drittel hatte eine solche im vergangenen Monat erlebt. Ein gutes Fünftel berichtete von optischen Fehlwahrnehmungen, etwas weniger von gefühlten und gerochenen. Die Psychologinnen und Psychologen waren einigermaßen erstaunt, wie sehr viele Berichte pathologischen Formen der Sinnestäuschungen ähnelten, etwa von Menschen, die unter Schizophrenie leiden oder Drogen missbrauchen. Zum Beispiel hatten viele bereits Halluzinationen in mehreren Sinneskanälen erlebt, was typischerweise bei neurologischen Erkrankungen vorkomme.

Stimmen und Schatten

Besonders bemerkenswert sei, wie vielfältig Halluzinationen sein können, schreiben die Studienautorinnen. Die häufigste akustische Halluzination sind Stimmen: Manche hören den eigenen Namen, andere ein unverständliches Flüstern oder Kinder, die weinen. Aber auch Musik und Telefonklingeltöne wurden oft genannt. Schatten führen die Liste der optische Fehlwahrnehmungen an. Bei den gefühlten sind es verschiedene Berührungen, z. B. eine Hand auf der Schulter, oder ein krabbelndes Insekt. Der Geruch von Feuer war bei den olfaktorischen Sinnestäuschungen am häufigsten; vermeintliche Essensgerüche, Parfum und Blumen sind ebenfalls recht verbreitet.

Die Halluzinationen wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern recht unterschiedlich erlebt, manchmal dauerten sie nur einen Augenblick oder wenige Sekunden, andere berichtet von minutenlangen Fehlwahrnehmungen. Meist waren die Erfahrungen unangenehm, für manche sogar sehr belastend, schreiben die Forscherinnen und Forscher. Das passe zur Idee, dass es bei psychotischen Symptomen ein ganzes Spektrum gebe: von einzelnen kurzen Erfahrungen bis zu einer ausgeprägten Psychose.

Blitzschnelle Verarbeitung

Erklärt werden die Sinnestäuschungen meist mit der Art, wie unser Gehirn arbeitet: Einerseits werden Sinneseindrücke verarbeitet, andererseits werden auch Vorannahmen über das Gesehene oder Gehörte gemacht, was zu Fehlschlüssen führen kann, heißt es in der Arbeit. Nach dieser Theorie treten Halluzinationen häufiger auf, wenn die Daten schlecht sind, also etwa wenn es dämmrig ist.

Die blitzschnellen Top-down-Annahmen seien aus evolutionärer Sicht sehr sinnvoll, im Ernstfall kann einem dies das Leben retten, betonen die Autorinnen. Das könnte auch erklären, warum die meisten Halluzinationen in die Kategorie „Warnsignal“ fallen: z. B. bedrohliche Stimmen und Schritte, weinende Kinder und der Geruch von Feuer oder Gas. Die Auswertung zeige aber auch, dass Sinnestäuschung nicht notwendigerweise belastend sein müssen. Insgesamt seien sie wohl häufiger bzw. viel „normaler“ als oft angenommen.