ABD0018_20170522 – WIEN – …STERREICH: THEMENBILD – Eine Volksschullehrerin unterrichtet am Dienstag 16. Mai 2017 in Wien in einer Offenen Volksschule (OVS) SchŸlerinnen und SchŸler einer Integrationsklasse. – FOTO: APA/HARALD SCHNEIDER
APA/Harald Schneider
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100 Schulen – 1.000 Chancen

Lässt sich Bildungsungleichheit ausgleichen?

Nicht erst seit der CoV-Pandemie stehen Schulen vor großen Herausforderungen. Die Schülerschaft wird immer vielfältiger. Es mangelt an Lehrkräften und administrativem Personal. 100 besonders geforderte Schulen bekommen nun zusätzliche Mittel. Wissenschaftliche Begleitanalysen zeigen, dass auch überraschende Maßnahmen helfen können, etwa ein Garten als Lernort.

Kein Schreibtisch, keine Unterstützung bei den Hausaufgaben, kein Geld für Nachhilfe: Schülerinnen und Schüler aus einkommensschwachen und bildungsfernen Haushalten brauchen in der Schule mehr Unterstützung als andere. Schulen können das oft nicht leisten, da Ressourcen fehlen. Gerade im urbanen Bereich sind bestimmte Schulen auf Grund der sozialen Zusammensetzung ihres Einzugsgebiets besonders gefordert. Einige dieser Schulen bekommen nun im Rahmen des Pilotprojekts „100 Schulen – 1.000 Chancen“ zusätzliche Ressourcen in der Höhe von insgesamt 15 Millionen Euro.

100 besonders geforderte Schulen

Ausgewählt wurden die Schulen mit Hilfe eines Index, den das Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen (IQS) entwickelt hat. Eingeflossen sind beispielsweise der Bildungshintergrund der Eltern, das Einkommen und auch der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund.

Senungshinweis

„Bildungsungleichheit ausgleichen“ ist diese Woche Thema im Radiokolleg: 7.6. bis 9.6. ab 09:05 Uhr

Von den am stärksten geforderten Schulen habe man dann sowohl solche ausgewählt, die mit den Herausforderungen gut zurechtkommen, als auch Schulen, die straucheln, erzählt die Bildungspsychologin Barbara Schober, die gemeinsam mit ihrem Team das Projekt evaluiert. „Wir haben systematisch Schulen ausgewählt, die, das zeigen die Ergebnisse der Bildungsstandards, offenkundig unterschiedlich umgehen, obwohl sie alle sehr vergleichbare Ausgangsbedingungen haben.“

Selbstbestimmte Ressourcenauswahl

Neu am Projekt sei, dass die ausgewählten Schulen selbst angeben durften, welche Ressourcen sie benötigen, erklärt Barbara Pitzer, die die Abteilung für Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung im Bildungsministerium leitet. Die Schulen mussten allerdings begründen, wie die angeforderten Ressourcen ihrer Ansicht nach wirken. Ob die erhoffte Wirkung eintritt, wird am Ende der Projektlaufzeit von eineinhalb Jahren gemessen. „Man kann auch draufkommen, das war nicht die richtige Maßnahme“, sagt Pitzer. Auch Fehler seien wichtige Lernmomente.

Die Schulen forderten vor allem Sachmittel an. Zwei Drittel der angefragten Ressourcen bezogen sich darauf, nur zu einem Drittel wurden personelle Ressourcen angefragt. Das könne auch am Lehrkräftemangel und der begrenzten Laufzeit liegen, vermutet Barbara Pitzer.

Gezielte Fördermaßnahmen

Teamarbeit, Selbstwirksamkeit und neue Unterrichtsformen: Aus der Forschung wisse man, was an Schulen mit besonderen Herausforderungen wichtig sei, sagt die Professorin für psychologische Bildungs- und Transferforschung, Barbara Schober. Dennoch gelinge es nicht immer, diese Dinge auch umzusetzen. Weshalb zusätzliche Ressourcen allein die Probleme nicht lösen würden. „Wenn ich gieße, ohne dass das an die Wurzeln kommt, wo es gerade fehlt, dann habe ich ein Problem.“

Schulentwicklung könne nicht von oben verordnet, sondern müsse von unten betrieben werden, ist Schober überzeugt. Die Schulen im Projekt mussten ihre ganz spezifischen Probleme identifizieren und Lösungen dafür finden. So erhofft man sich nicht nur eine gezielte und wirksame Förderung, sondern auch Lerneffekte. Man will Maßnahmen identifizieren, die sich auch auf andere Standorte mit ähnlichen Bedingungen übertragen lassen.

Was Garten mit Unterricht zu tun hat

Eine Schule möchte beispielsweise ihren Garten zum Lernort umgestalten, erzählt Barbara Schober, die einige der teilnehmenden Schulen besucht hat. Eine Maßnahme, die auf den ersten Blick wenig mit Schulentwicklung zu tun hat. Blickt man genauer hin, könnte der Garten die Unterrichtsqualität aber erheblich verbessern.

Denn er schafft, zumindest bei gutem Wetter, Lernrückzugsorte und die Möglichkeit sich in Gruppen aufzuteilen. Das sei besonders bei sehr heterogenen Lernvoraussetzungen wichtig, sagt die Bildungsexpertin. „Dass nicht jeder das Gleiche macht, dass man schaut, der eine bearbeitet die Aufgabe auf die Form, der andere, auf die andere oder man erfährt Lerngegenstände auf eine andere Art und Weise, als dass einem nur jemand das erklärt.“

Steigende Bildungsungleichheit

Die CoV-Pandemie hat die Bildungsungleichheit in Österreich verschärft. Durch das Homeschooling wurden Kinder aus bildungsfernen Schichten weiter abgehängt. Die Armutskonferenz fordert, das Pilotprojekt „100 Schulen – 1.000 Chancen“ flächendeckend auszurollen und einen Chancenindex einzuführen, der über die Mittelzuteilung im Schulsystem bestimmt.

Wie so ein Chancenindex aussehen könnte und welche Schulen davon profitieren würden, hat die Arbeiterkammer bereits vor ein paar Jahren von der Statistik Austria erheben lassen. „Es macht einen Unterschied, ob ich drei oder 15 Kinder in einer Klasse habe, die Unterstützung brauchen“, sagt der AK-Bildungsökonom Philipp Schnell.

Schulen in herausfordernder Lage bräuchten mehr helfende Hände und eine bessere Ausstattung. Der Vorschlag der Arbeiterkammer sieht für die Pflichtschulen eine Basisfinanzierung in der Höhe der derzeitigen Ausgaben und eine zusätzliche bedarfsorientierte Verteilung von Fördermitteln in der Höhe von 300 Millionen Euro pro Jahr vor.

Vorbild Hamburg

Wie Schulfinanzierung nach Chancenindex funktioniert, kann man seit mehr als zwanzig Jahren in der Stadt Hamburg beobachten. Dort werden die Mittel im Schulsystem nach dem sozialen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler verteilt. Man orientiere sich dabei an Pierre Bourdieus Theorie der Kapitalsorten, erklärt Martina Diedrich, Direktorin des Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung in Hamburg.

Da der Sozialindex nur ein Baustein von vielen sei, mit denen man versuche Chancengerechtigkeit im Bildungswesen zu erhöhen, sei es nicht möglich seine Effekte isoliert zu bewerten. Klar sei aber, Hamburg habe sich bei den großen Vergleichsuntersuchungen deutlich verbessert. „Wir hatten immer zusammen mit Berlin und Bremen das Schlusslicht“, erzählt Diedrich. Heute sei man in vielen Bereichen, besonders was sprachliche Kompetenzen betrifft, deutlich besser.

Würde man das Bildungssystem mit einem Marathonlauf vergleichen, dann würden manche Schulen bei Kilometer 20 einsteigen und andere Schulen bei Kilometer minus zehn, meint die Bildungsexpertin. „Da versucht der Index für gleichere Startchancen zu sorgen. Ob jetzt alle bei Kilometer null starten, das bezweifle ich, aber zumindest nähern sie sich ein bisschen an.“